Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für altorientalische und hellenistische Religionsgeschichte (IAHRG)

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Das Erstlingsopfer der vorderorientalischen Welt und seine Bedeutung für die Erstlings- und Erstgeburtbestimmungen des Alten Testaments

gefördert durch die Gerda-Henkel-Stiftung im Rahmen eines zweijährigen Forschungsstipendiums seit 1.11.2021

Gegenstand der Projektförderung ist die Fertigstellung eines Projekts, an dem der vorgesehene Bearbeiter, Dr. Johannes Renz, seit etwa zwei Jahrzehnten arbeitet.

 

Thema – Forschungslage – Desiderata

Hauptanlass für die eingehende Beschäftigung mit dem Themenkomplex »Erstlingsopfer« war ein nach wie vor ungebrochenes Interesse am Thema »Kinderopfer« in der Antike und an markanten Sätzen der Hebräischen Bibel wie „nimm deinen Sohn … und opfere ihn dort“ (Gn 22, 2)  und „jeder Durchbruch des Mutterschoßes gehört mir“ (Ex 34, 19). Gerade die letztgenannte Forderung führte schnell zur Vermutung, dass dahinter ein ganzes Opfersystem von Erstlingsopfern von Mensch, Tier und schließlich pflanzlichen Erträgen stehen müsse. Bereits die Hebräische Bibel (Nu 18, 12–18; Neh 10, 36–38) und dann die ältere Forschung konnten die geforderte Darbringung von Mensch und Tier als Erstgeburtsopfer im engen logischen Zusammenhang mit der biblischen Forderung der Darbringung von Erstlingsgaben vom Ertrag der pflanzlichen Ernte (Ex 23, 16; 19 par; Nu 28, 26ff.; Lv 23, 16–21; Dt 18, 4; 26, 1ff. u.ö.; Nu 18, 8ff.; Neh 10, 36)  zusammen sehen und aus dieser heraus erklären.

Es ist seit langem bekannt, dass unbestreitbare Erstgeburtsopfer – also die automatisch geforderte Opferung eines jeden erstgeborenen Kindes bzw. speziell des Sohnes – in der Antike kaum nachweisbar sind. Die Annahme der Existenz und des hohen Alters von Erstgeburtsopfern verdankt sich primär theoretischen Erwägungen zum antiken Opfersystem: Dem unbestrittenen Erstlingsopfer vegetabilischer Nahrung müsse ein korrelierendes Erstlingsopfer aus dem Bereich der Viehzucht, das sich konkret als Erstgeburtsopfer realisiert, entsprechen. Damit würde schließlich das Opfer des Erstgeborenen beim Menschen korrelieren.

Um neue Daten und Argumente in die Diskussion zu bringen, soll in diesem Forschungsvorhaben umgekehrt dem bislang vernachlässigten, aber selbstverständlich vorausgesetzten, im antiken Orient gut belegten Erstlingsopfer von Ernte, Jagd und Tierproduktion breite Aufmerksamkeit gewidmet werden, um zu klären, ob die Denkvoraussetzungen der genannten Erklärung des menschlichen und tierischen Erstgeburtsopfers überhaupt stimmen, ob eine solche alles umfassende Opfer-Systematik überhaupt der ursprünglichen Bedeutung von Erstlingsopfern entspricht.

Eine neue Untersuchung des Themas wird demnach weitaus umfangreicher als bislang ansetzen müssen. Mittels einer regionsübergreifenden religions- und begriffsgeschichtlichen Untersuchung sollen die alttestamentlichen Vorschriften zum Erstlings- und Erstgeburtsopfer vor dem Hintergrund gemeinantiker Erstlingsopfer erklärt und deutlich gemacht werden, was sich gemeinantiken Vorstellungen verdankt und was primär – gerade auch unter den Voraussetzungen der neueren Vorstellungen von der Entstehungsgeschichte biblischer Literatur – als innerjüdische Entwicklung zu erklären ist.

Forschungslage

Gegenüber der großen Zahl umfangreicher Literatur zum Kinder- und Erstgeburtsopfer ist der Themenkomplex „Erstlingsopfer“ in der Forschung deutlich unterrepräsentiert. Drei Phasen der Erforschung der Erstlingsopfer sind grob zu unterscheiden:

(a) Die Pionierphase und im Blick auf die Zusammenstellung der Quellen bis heute maßgebliche Periode ist am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durch die Namen J. Wellhausen, W. Robertson Smith und J. Frazer gekennzeichnet, die in ihre umfangreichen Theorien zur Entwicklung von Gesellschaft, Religion und Opfer auch Beobachtungen zum Erstlingsopfer – Herdenerstlingen wie agrarischen Erstlingen, auch Menschenopfern – einbetteten. Kleinere Monographien stehen zu Einzelaspekten von Erstlingsopfern begrenzter geographischer Räume zur Verfügung (Griechenland: Beer [1914]; Judentum: Eißfeldt [1917]). Die Perspektive ist kulturübergreifend (Frazer) oder auf semitische, oft als Nomaden verstandene Gruppen fokussiert.

(b) Mit V. Lanternari, W. Schmidt (Erstlingsopfer als Uropfer) und J. Henninger beginnt eine weitere Forschungsphase, die bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts reichte. Im Zentrum stehen ethnologischen Erforschung von Frühsemiten, deren Lebensform, speziell der Hirten- und Nomadenkultur, und deren Religion, wobei den Frühlingsfesten und deren Verhältnis zum jüdischen Passafest ein besonderer Stellenwert zukam. Auch hier stellen Erstlingsopfer – und speziell die tierischen Herdenerstlinge – nur einen Aspekt übergeordneter Theorien dar.

(c) In neuerer Zeit ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert das Thema Erstlingsopfer an Interesse. Der Focus liegt deutlich auf der innerbiblischen Religionsgeschichte, was sich in mehreren kürzeren Wörterbuchartikeln und in Abschnitten von theologischen Gesamtdarstellungen niederschlägt.

Allgemeine Konsequenzen aus der bisherigen Forschung

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt greift die Ansätze der älteren Forschung auf, geht jedoch bewusst darüber hinaus, indem es bei den Quellen selbst ansetzt und dabei die Argumentation auf eine möglichst breite Basis stellt.

Nach den quellenorientierten Arbeiten Wellhausens und anderer fachspezifischer Untersuchungen ist die Forschung überwiegend ethnologisch-religionsgeschichtlich vorgegangen. Dabei wurde in der Regel mit Sekundärliteratur argumentiert, die primärquellenorientierte Arbeit ist jedoch in den Hintergrund gerückt, so dass bei dieser anzusetzen ist.

Von Anfang an war die Erforschung von Erstlingsopfern aller Prägungen nicht ein eigenes Thema, sondern Bestandteil umfassender sozialgeschichtlicher, ethnologischer und religionsgeschichtlicher Theoriebildung. So wichtig diese Ansätze auch sind: was fehlt, ist eine empirisch orientierte Arbeit, die vom Material ausgeht und anhand der Originalquellen die Belege für die Vorstellung eines Erstlingsopfers neu zusammenstellt und auswertet.

Dies bedeutet zugleich, den religionsgeschichtlichen Horizont deutlich zu erweitern. Dabei gilt es, die Konzentration der älteren Forschung auf die Religion semitischsprachiger Bevölkerungsgruppen zu überwinden und die dabei vorausgesetzte Dichotomie von sesshaften „Kanaanäern“ mit agrarischen Erstlingsfesten einerseits und (halb)„nomadischen“ Frühsemiten mit Frühlingsfesten und Herdenerstlingen andererseits zu hinterfragen – ein Erklärungsmodell, das den neueren Erkenntnissen zur Frühgeschichte Palästina/Israels nicht mehr gerecht wird.

 

Aufgabenstellung – allgemeine Vorgehensweise

Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit, die unbestrittenen und gut belegten, in der Forschung aber unterrepräsentierten Erstlingsopfer einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Die Aufgabe des Projekts ist somit eine zweifache: Es sollen (1) die Belege für das Erstlingsopfer im vorderorientalischen bzw. antiken Raum zusammengetragen werden. Damit verbunden ist (2) eine begriffsgeschichtlich, terminologische Untersuchung.

Religionsgeschichtliche Untersuchung

Zunächst muss der antike Raum durchsucht werden nach Abgaben und Opfern, die als Erstlingsopfer zu verstehen sind bzw. nach Situationen, in denen Erstlingsopfer zu erwarten sind. Der geographische Raum, der berücksichtigt wird, reicht vom antiken vorderen Orient einschließlich Mesopotamien und Persien bis zum ägäischen Raum:

Dies bedeutet für die religionsgeschichtliche Untersuchung eine schwerpunktmäßige Konzentration auf drei geographische Räume: (a) Griechenland mit Ausblicken auf das antike Rom, (b) die arabische Halbinsel (altsüdarabisch; altnordarabisch; klassisch-arabisch; neuzeitliche ethnologische und religionsgeschichtliche Beobachtungen) und (c)  Mesopotamien (Schwerpunkt Sumer; dann babylonisch-assyrische Quellen). Die Nachrichten zu Erstlingsopfern aus Syrien-Palästina – bronzezeitliche wie eisenzeitliche – werden im Rahmen des sprachgeschichlichen Vergleichs (s.u.) berücksichtigt und fließen in die Gesamtschau mit ein. Ägypten und Kleinasien werden in Ausblicken zum Vergleich herangezogen.

Methodisch soll zunächst die einschlägige Sekundärliteratur nach Hinweisen auf Erstlingsopfer durchsucht, dabei die Terminologie, die im Kontext von Erstlingsopfern zur Anwendung kommt, herausgearbeitet werden, so dass im zweiten, eigentlichen Schritt an Hand von Wörterbüchern, Konkordanzen und (Internet-)Datenbanken alle Belege dieser Begrifflichkeit eruiert und untersucht werden können. Die eigentliche Arbeit ist primärquellenorientiert und versucht dann, unabhängig von einschlägigen Zusammenfassungen eine Gesamtschau der jeweiligen Regionen zu erarbeiten. Insofern setzt der hier gewählte methodische Ansatz beim Material selbst an und ist enzyklopädisch angelegt. Es geht darum, nahezu alle verfügbaren Belege zusammenzutragen.

In der detaillierten Untersuchung soll es schwerpunktmäßig um die phänomenologische Beschreibung (Morphologie) dessen gehen, was als Erstlingsopfer zu bezeichnen ist: Untersuchung und Gliederung orientieren sich an der Ausgangsmenge, von der Erstlinge abgesondert werden – Ernte, Wurf des Viehs, Jagd, Beutezüge etc. – sowie an Art, Umfang und Abtrennungsmethode des Erstlingsanteils. Bei den schwerpunktmäßig detaillierter untersuchten Regionen werden zudem Geber (z.B. Individuen; Kollektive) und Empfänger, Anlass der Übergabe (kollektiv in Festen und Prozessionen; individuell), Übergaberitus und Ziel näher untersucht.

Sprach – und terminologiegeschichtliche Untersuchung

Die zweite Aufgabe des Projekts ist eine sprach- und terminologiegeschichtliche: Über die Sprachgrenzen hinweg wird die Terminologie, mit der Erstlinge benannt wurden, herausgearbeitet und untersucht. Dies muss immer im Vergleich zur einzelsprachlichen Realisierung der Bezeichnungen des Ersten bzw. der ersten Ordinalzahl erfolgen sowie deren Verhältnis zu Zeitangaben, die das Ältere, Frühere bezeichnen. Ebenso notwendig ist ein Blick auf die jeweilige Benennung der Erstgeburt von Mensch und Tier.

 

Hauptthemenbereiche

Erstlinge im ägäischen Raum

Die Untersuchung der Begrifflichkeit für Erstlinge und deren Verhältnisbestimmung zur Bezeichnung des Ersten bedeutet im Falle der indoeuropäischen Sprachen die Vorschaltung eines größeren Kapitels zur Terminologie im Altindischen und Altpersischen / Awestischen mit einem Ausblick auf Erstlings- und Kinderopfer im antiken Indien und Persien.

Hauptthema des Forschungsgegenstands sind naturgemäß griechische Feste, Opfer und Abgaben, bei denen Erstlinge eine Rolle spielen konnten.

Erstlinge in Mesopotamien

Für das Sumerische steht vor allem die Klärung der Begrifflichkeit für Erstlinge im Vordergrund. Was außerhalb Mesopotamiens als Erstling erscheint, wird sumerisch bis in altbabylonische Zeit mit einem nisag̃ lautenden Begriff bezeichnet. Die Klärung dieses Begriffs und dessen Verhältnisbestimmung zu einem ne-sag̃ geschriebenen Gabenterminus nahm einen breiten Raum ein. Charakter und Bedeutung solcher nísag̃-Gaben sind herauszuarbeiten.

Die Hinweise auf Erstlingsgaben im semitisch-sprechenden (akkadischen) Mesopotamien (in überwiegend neuassyrischer Zeit) sind weniger zahlreich und oftmals anders geartet als das ältere sumerische Material. Als Terminus begegnen rēšu und der Plural von rēštu.

Erstlinge im arabischen Raum

Als weiterer großer religionsgeschichtlicher Horizont wird das das Vorkommen von Erstlingen im arabischen Raum untersucht, gegliedert in 1. Südarabien, 2. Altnordarabien, 3. Erstlinge in klassisch-arabischer Traditionsliteratur die vorislamische Zeit betreffend sowie 4. Hinweise auf Erstlinge in der ethnologischen Literatur zum frühmodernen Palästina und Arabien.

Hierbei geht es in den altsüdarabischen Reichen um einen Typus von Abgaben, der frʿ genannt wird – eingebettet in ein umfangreiches System von Abgaben, deren Verhältnis zueinander zu bestimmen ist.

Vor allem die klassisch-arabische Traditionsliteratur ist geprägt von einem stereotyp formulierten Verbot von zwei Opfern der vorislamischen Zeit, faraʿ und ʿatīra. Der potenzielle Erstlingscharakter dieser Opfer und weiterer vergleichbarer Opfer ist zu diskutieren.

Eine Durchsicht der ethnologischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts n.Chr. zu Alltagsbräuchen in Arabien und Palästina ergibt verschiedene Hinweise auf Erstlingsopfer unterschiedlicher Terminologie.

Terminologische Untersuchung: Die Wurzeln bkr und prʿ

Die Untersuchung der drei religionsgeschichtlichen Horizonte wird durch eine begriffsorientierte Untersuchung ergänzt. Da mehrere Fachtermini im Umfeld von Erstlingsgaben speziell im westsemitischen Bereich von zwei Wurzeln – prʿ und bkr – gebildet sind und die Vorstellung dessen, was als Erstlinge im Untersuchungszeitraum wahrgenommen wurde, von der Bedeutung dieser Wurzeln mit abhängt, soll die Bedeutungsbreite dieser Wurzeln eigens untersucht werden. Wie in der allgemeinen Zielbeschreibung bereits angedeutet, wurden dabei konsequent alle antiken semitischen Sprachen berücksichtigt.

 

Ziel: Der altorientalische Hintergrund der biblischen Erstlingsopfer

Basierend auf den genannten vier Arbeitsschritten soll zur Ausgangsfragestellung zurückgekehrt werden, um die Rahmenbedingungen aufzuzeigen, innerhalb derer die biblischen und nachbiblischen Erstlings- und Erstgeburtsopferbestimmungen entstanden sind.