Nachruf von Prof. Dr. Jens Schröter
Nachruf auf Peter Christian Freiherr von der Osten Sacken und von Rhein
(3. März 1940 – 28. Juni 2022)
Peter von der Osten-Sacken war ein großer Gelehrter, ein leidenschaftlicher Demokrat, ein
energischer Streiter für eine christliche Theologie, die sich ihrer Einbettung in die jüdischen
Schriften und Traditionen sowie der daraus erwachsenden Verpflichtungen bewusst ist. Er hat
zu einer Neubesinnung christlicher Theologie nach der Shoa substantiell beigetragen; er hat
Generationen von Pfarrinnen und Pfarrern geprägt; er hat maßgebliche Studien, u.a. zu
Paulus, zum jüdischen Gottesdienst, zum christlichen-jüdischen Gespräch und zu Martin
Luther, verfasst. Mit seinem Tod vollendet sich ein reiches Leben als Lehrer, Forscher und
Gesprächspartner an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West), der Theologischen Fakultät der
Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut Kirche und Judentum. Seine Wirkung reicht
weit über diese Kontexte hinaus und hat zu zahlreichen Ehrungen geführt, die sein
Engagement in Universität, Kirche und Gesellschaft würdigen.
Peter von der Osten-Sacken wurde in Gnojau in Westpreußen geboren. Seine Schulzeit
verbrachte er in Niedersachsen, wo er von 1950 bis 1959 das Gymnasium Ernestinum in Celle
besuchte. Während dieser Zeit spielte er mit Begeisterung Fußball und war zweimal
Niedersachsenpokalmeister mit der A-Jugend des TSV Burgdorf.
Im Anschluss an die Schulzeit studierte er evangelische Theologie in Göttingen, Kiel und
Heidelberg und legte 1964 das 1. Theologische Examen bei der Evangelisch-lutherischen
Landeskirche Hannover ab. Bereits in dieser Zeit entwickelte er ein Interesse für Israel, was in
mehreren Reisen ins Heilige Land sowie in der Leitung der christlich-jüdischen
Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Studentengemeinde in Kiel Ausdruck fand.
Nach dem Studium trat er eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen
Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen bei Eduard Lohse an. Dort wurde er 1967 mit
einer Arbeit über die Qumranschriften promoviert, die 1969 unter dem Titel „Gott und Belial.
Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Dualismus in den Texten aus Qumran“ (Studien
zur Umwelt des Neuen Testaments 6), publiziert wurde. Es folgten ein halbjähriges Vikariat in
Bremke bei Göttingen im Jahr 1968 sowie die Zuwendung zu seinem Habilitationsvorhaben
mit einem zentralen Thema der neutestamentlichen Wissenschaft. Die Habilitationsschrift,
eine traditions- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung von Römer 8, wurde im
Wintersemester 1972/73 von der Göttinger Fakultät angenommen und 1975 unter dem Titel
„Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie“ publiziert (Forschungen zu Religion und
Literatur des Alten und Neuen Testaments 112).
In dieser Zeit hat Peter von der Osten-Sacken eine weitere, kleine aber gleichwohl gewichtige
und viel beachtete Studie verfasst. Im Jahr 1969 erschien die Abhandlung „Die Apokalyptik in
ihrem Verhältnis zu Prophetie und Weisheit“ (Theologische Existenz heute 57), in der er sich
kritisch mit der These Gerhard von Rads auseinandersetzt, die Apokalyptik wurzle im
weisheitlichen Schrifttum des Judentums. Stattdessen, so von der Osten-Sacken, sei die
Prophetie als Nährboden apokalyptischer Weltdeutung anzusehen, was er insbesondere
anhand des Buches Daniel darlegt.
Unmittelbar nach seiner Habilitation, noch im Jahr 1973, wurde Peter von der Osten-Sacken
an die Kirchliche Hochschule Berlin (West) berufen, wo er bis zur Neugründung der Berliner
Theologischen Fakultät im Jahr 1993 als Professor für Neues Testament tätig war. Von 1980
bis 1982 war er zudem Rektor der Kirchlichen Hochschule. Mit der Zusammenführung der
Berliner theologischen Ausbildungsstätten kam Peter von der Osten-Sacken an die
Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, der er bis zu seiner Emeritierung im
Jahr 2005 treu blieb. Seit 1974 war er zudem Leiter des Instituts Kirche und Judentum, eine
Aufgabe, die er mit großem Engagement über seine Emeritierung hinaus bis zum Jahr 2007
wahrnahm. Das Institut hat durch die zahlreichen Initiativen, die Peter von der Osten-Sacken
angestoßen hat, erheblich an Bekanntheit und Strahlkraft gewonnen und ist zu einer
wichtigen Institution, weit über den Berliner Kontext hinaus, geworden.
Im Laufe seiner Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit trat die Frage nach einer in
Verantwortung vor ihren jüdischen Wurzeln betriebenen christlichen Theologie immer stärker
in den Vordergrund. In seiner Vorlesung über den Römerbrief, die er mehrfach gehalten hat,
legte er Wert darauf, dass das Ringen des Paulus um eine Antwort auf die Frage nach der
Rettung ganz Israels in den Kapiteln 9 bis 11 kein „Appendix“ sei, sondern ein zentraler und
integraler Bestandteil des Briefes. Darin wird ansichtig, was nach Auffassung von Peter von
der Osten-Sacken unverzichtbar ist und ins Zentrum akademisch-theologischer Reflexion und
kirchlichen Handelns gehört: Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk, dem die
Verheißungen gelten und dem Gott sein Heil zugesagt hat. Das wird, und Peter von der Osten-
Sacken wurde nicht müde, es immer wieder zu betonen, auch durch das im Evangelium
offenbar werdende Heil Gottes nicht revoziert. Was heute den meisten in Theologie und
Kirche Tätigen als selbstverständlich erscheinen mag, war es seinerzeit keineswegs. Gerade
darum hat diese, damals neue und aufrüttelnde Sicht auf den Römerbrief und das Neue
Testament insgesamt tief in die Pfarrer- und Pfarrerinnenschaft, nicht nur in Berlin, hinein
gewirkt. Im Berliner und Brandenburger Kontext ist das heute, etwa bei Pfarrkonventen und
Pastoralkollegs, immer wieder zu spüren. Das im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung
erschienene “Jewish Annotated New Testament” („Das Neues Testament jüdisch erklärt“,
Stuttgart 2021) hat Peter von der Osten-Sacken deshalb mit großer Freude und auch mit einer
gewissen Genugtuung zur Kenntnis genommen, wird hier doch eindrücklich vor Augen
geführt, was er seit Jahrzehnten vertreten hatte: dass nämlich das Neue Testament als ein
jüdisches Buch zu lesen und zu interpretieren sei.
Der Einsatz für das christlich-jüdische Gespräch war ihm eine Herzensangelegenheit. Es sollte,
wie er oft betonte, nicht ein Gespräch unter Christen über Juden sein, sondern ein wirklicher,
von gegenseitigem Respekt getragener Dialog. Dem dienten die zahlreichen Kontakte nach
Israel, das Programm „Studium in Israel“, das Peter von der Osten-Sacken mitbegründet und
in dem er viele Jahre aktiv mitgewirkt hat, sowie die christlich-jüdische Sommeruniversität,
eine der maßgeblichen Veranstaltungen des Instituts Kirche und Judentum, die er ins Leben
gerufen hat und die seit 1987 in zweijährlichem Rhythmus stattfindet.
Auch die Publikationstätigkeit gibt in reichem Maße Einblick in die intensive Arbeit, die Peter
von der Osten-Sacken der Verständigung mit dem Judentum und einer Neuausrichtung der
Interpretation des Neuen Testaments sowie der christlichen Theologie insgesamt gewidmet
hat. Nur Weniges kann hier genannt werden. Gemeinsam mit Rabbiner Chaim Z. Rozwaski hat
er den Band „Die Welt des jüdischen Gottesdienstes. Feste, Feiern und Gebete“
herausgegeben (2009, zweite Auflage 2014, als Band 29 der Veröffentlichungen aus dem
Institut Kirche und Judentum). Ebenfalls gemeinsam mit Chaim Z. Rozwaski hat er die von dem
Philologen und Pädagogen Dr. Elieser L. Ehrmann in den Jahren 1936 bis 1938
zusammengestellten Unterrichtsmaterialien zu jüdischen Festen für den Unterricht an
deutschen Schulen neu ediert („Von Trauer zur Freude. Leitfäden und Texte zu den jüdischen
Festen“, 2012 als Band 30 der eben genannten Reihe erschienen). Dieser Band ist ein
eindrückliches Zeugnis nicht nur für die Situation der jüdischen Schule und Erziehung in der
nationalsozialistischen Zeit, sondern auch für die Kenntnis über die jüdischen Feste, die
Ehrmann zusammengestellt hat und die hier mustergültig ediert wurden.
Seine Sicht auf das Neue Testament, mit einem Schwerpunkt auf Paulus, hat Peter von der
Osten-Sacken in zahlreichen Arbeiten vorangetrieben, von denen sich etliche in Bänden mit
gesammelten Studien finden. Besonders hingewiesen sei auf: „Der Gott der Hoffnung.
Gesammelte Aufsätze zur Theologie des Paulus“ (2014 in der Reihe „Studien zu Kirche und
Israel. Neue Folge“, Band 3, erschienen). Hier finden sich Beiträge zum Römerbrief und den
Korintherbriefen, die das Zerrbild einer angeblich negativ-kritischen Sicht des Paulus auf die
Tora zurechtrücken und ihr ein deutlich differenziertes Bild entgegenstellen. Dazu gehören
z.B. ein umfangreicher Aufsatz über „Das Verständnis des Gesetzes im Römerbrief“ sowie ein
weiterer zu den oben genannten Kapiteln Römer 9 bis 11, die als „Schibbolet christlicher
Theologie“ bezeichnet werden. Die Beschäftigung mit „Paulus im Judentum“ – so die
Selbstbezeichnung einer derzeit aktuellen Paulusperspektive, die in Peter von der Osten-
Sacken einen veritablen Wegbereiter und Mitstreiter besitzt – wird durch seinen Kommentar
zum Galaterbrief (erschienen 2019) abgerundet. Darin wird die Kontinuität im Denken und
Handeln des Paulus herausgearbeitet, die ungeachtet seiner Wende vom Verfolger der
Jesusanhänger zum Verkünder des Evangeliums bestand und die zu beachten für eine
sachgerechte Interpretation der Theologie des Paulus von grundlegender Bedeutung ist.
Weitere Studien in dem genannten Band zeichnen diese Sicht in einen größeren theologischen
Horizont ein, so z.B.: „Abraham als biblische Urgestalt. Theologische Überlegungen zu seiner
Deutung bei Paulus, Luther und im Judentum“. Damit ist ein weiterer Schwerpunkt der
Arbeiten von Peter von der Osten-Sacken angesprochen, nämlich „ein Christusverständnis,
das Israel achtet und bejaht“, (so der Untertitel eines anderen Aufsatzes) in christlicher
Theologie und Kirche zur Wirkung zu bringen. In diesem Sinn hat er z.B. das Verhältnis Martin
Luthers und der lutherischen Theologie zu Judentum und jüdischer Theologie in der
Monographie „Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas
,Der gantz Jüdisch glaub‘ (1530/31)“, Stuttgart 2002, analysiert. In dieser und ähnlichen
Arbeiten ging es Peter von der Osten-Sacken darum, Verwerfungen zu überwinden,
Missverständnisse aufzuklären, „Gedanken zu Ort, Art und Aufgabe jüdischer Studien in der
christlichen Theologie“ (so ein anderer Untertitel) zu entwickeln, auf das christlich-jüdische
Gespräch in der Kirche einzuwirken und Konsequenzen daraus, z.B. für die Gestalt
evangelischer Gottesdienste, zu bedenken. Von diesem Anliegen zeugt auch eine schier
unüberschaubare Zahl an Vorträgen, die Peter von der Osten-Sacken in akademischen,
kirchlichen und anderen gesellschaftlichen Kontexten gehalten hat.
In seinen letzten Jahren hat es ihm eine tückische Krankheit nur noch selten und unter großen
Strapazen erlaubt, sein Haus in Berlin-Lichterfelde zu verlassen. Das hat ihn aber nicht davon
abgehalten, wann immer es ihm möglich war, weiter an seinen Vorhaben zu arbeiten. Daraus
ist zuletzt eine große Geschichte des jüdischen Gottesdienstes hervorgegangen, die er zu
Beginn des Jahres 2022 noch hat abschließen können. Er hat sich aber auch an seiner größer
werdenden Familie erfreut und sich von dieser inspirieren lassen. So hatte er sich
vorgenommen, für seine Enkelkinder – und für alle Kinder, die daran Freude haben, – die Bibel
nachzuerzählen. Daraus ist, als eine seiner letzten Publikationen, ein kleines, mit Illustrationen
versehenes Büchlein hervorgegangen, das 2021 im Kadmos Verlag erschienen ist (2. Auflage
2022): „Die Bibel und ihre kühnen Geschichten: Das 1. Buch Mose, für Kinder zwischen 12 und
120 erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken“.
Für sein Wirken ist Peter von der Osten-Sacken 2005 durch den Deutschen Koordinierungsrat
der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit der Buber-Rosenzweig-
Medaille ausgezeichnet worden. 2006 wurde ihm der Doctor of Humane Letters honoris causa
durch das Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion, Los Angeles/New York
verliehen; 2016 erhielt er den Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin zur Förderung der
Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern und Religionen. Peter von
der Osten-Sacken wurde 2007 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der
Freien Universität Berlin die Würde eines Ehrendoktors verliehen.
Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin ist dankbar für das langjährige,
fruchtbare Wirken von Peter von der Osten-Sacken. Es hat tiefe Spuren und nachhaltige
Wirkungen hinterlassen. Seine Anstöße sind für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger
Verpflichtung und Ansporn, sie werden es auch für künftige Generationen akademischer
Lehrerinnen und Lehrer, ebenso wie für Pfarrerinnen und Pfarrer, sein.
Für die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
Jens Schröter