Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

BThZ Beiheft 2003

Die herausgeforderte Demokratie. Recht, Religion, Politik


CHRISTOF GESTRICH
Zu diesem Heft

Religionen und Kirchen sind nicht schon von Haus aus Protagonisten der Demokratie. Die westlichen Kirchen sind dies heute jedoch in hohem Maße. Sorge über zunehmende Aushöhlungen der demokratischen Verfasstheit und Verfahrensweise unseres öffentlichen Lebens hat zur Wahl des Themas der XI. Werner-Reihlen-Vorlesung geführt. Die hier veröffentlichten interdisziplinären Vorträge und Diskussionen befassen sich unter ausgewählten Perspektiven mit aktuellen Gefährdungen der heutigen, westlichen auf Gewaltenteilung gegründeten Rechtsstaatlichkeit. Sie weisen auf Bedrohungen von innen und von außen hin. Doch kommen auch neue Chancen in den Blick.

Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf fragt grundsätzlich nach der Demokratiefähigkeit von Religionen. Er bringt sodann, E. Troeltsch erwähnend, das Erbe der liberalen Theologie und Weltanschauung offensiv ein gegen alte und neue Demokratiedefizite. Dies umso mehr, als dieses Erbe in Europa und seinen Kirchen und Theologien seit längerem auf dem Rückzug zu sein scheint, während es heute z.B. in Japan auf sehr breites Interesse stößt. Graf ruft die Kirchen dazu auf, der Demokratie den besten Dienst dadurch zu leisten, dass sie sich konzentriert der Pflege guter Religion widmen.

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe präsentiert zuversichtliche Überlegungen zu einer künftigen Weltrepublik. Er akzeptiert die Herausforderung der Globalisierung und sieht in ihrem Fortschreiten auch die Möglichkeit, auf der Erde Gerechtigkeit wieder besser zu verwirklichen. Er fordert daher die Anpassung der Institutionen an die neue, globale Weltordnung, und er aktualisiert I. Kants Völkerbund-Ideen in einer "realistischen Vision" künftiger Weltdemokratie.

Skeptischer ist dagegen die Perspektive des Würzburger Verfassungsjuristen Horst Dreier, der die Unangepasstheit zwischen nationalstaatlichem und internationalem Recht, z.B. Europarecht, beobachtet und die gegenwärtigen Institutionen überlagert sieht von demokratisch nicht hinreichend legitimierten Ansprüchen. Längst habe eine schleichende Erosion der Verfassung eingesetzt. Die Macht des Faktischen erhebe immer mehr einen problematischen Rechtsanspruch. Im übrigen bedeute es keinen Vorteil für die Lebensqualität, wenn man geordnete kleinere politische Einheiten preisgibt zugunsten großer Zusammenschlüsse ("wohin kann man dann noch auswandern?").

Der Politikwissenschaftler Henning Ottmann vom Geschwister-Scholl-Institut der Universität München fragt, an klassische Theorien anknüpfend, inwiefern es in der Politik möglicherweise eine legitime und daher "edle" Lüge gibt. Er zeigt, dass die hierfür schon von Platon gegebenen Beispiele die verbreiteten Lüge beim heutigen Politikgeschäft eher nicht decken.

Die abschließende Podiumsdiskussion beleuchtet dann noch unter der kundigen Leitung des neu in Berlin Praktische Theologie lehrenden Kollegen Rolf Schieder weitere Demokratie-Probleme in der gegenwärtigen multikulturellen Gesellschaft. Andreas Feldtkeller, der an der Berliner Theologischen Fakultät die Fächergruppe Religions- und Missionswissenschaft sowie Ökumenik vertritt, bringt im Rahmen dieser Diskussion sehr differenziert die Frage des Verhältnisses von Islam und Demokratie zur Sprache.


FRIEDRICH WILHELM GRAF
Lob der Differenz. Die Bedeutung der Religion innerhalb der demokratischen Kultur

Braucht der demokratische Staat Religion? Der Frage wird in drei Schritten nachgegangen. Erstens wird Religion als eine Deutungskultur beschrieben, die äußerst ambivalent und vieldeutig ist. Im zweiten Teil geht es um den neuen religiösen Pluralismus der Gegenwart. Drittens wird, auch mit Blick auf Schleiermacher, die These entwickelt, dass die Demokratie ohne Bürgertugend nicht zu bestehen vermag und im gelungenen Fall Religion das bürgerliche Engagement stärkt.

Does the democratic state need religion? This question is dealt with in three steps. Firstly religion is described as an interpretative culture that is extremely contradictory and multi-faceted. This paper then focuses on the new religious pluralism of the present day. Thirdly, with regard to Schleiermacher, the author proposes that democracy cannot exist without civil responsibility and at best religion strengthens civil engagement.


OTFRIED HÖFFE
Aufbruch zur politischen Globalisierung

Die fortschreitende Globalisierung in unterschiedlichen Bereichen (Wirtschaft, Kommunikation, Kultur …) führt zu einer Weltgesellschaft in drei Dimensionen: als "Gewaltgemeinschaft", "Kooperationsgemeinschaft" und "Gemeinschaft von Not und Leid". Alle drei Dimensionen schaffen einen globalen Handlungsbedarf, den die Einzelstaaten nicht zu bewältigen vermögen. Ausgehend von einem universalen Rechts- und Demokratiegebot plädiert der Text daher für die Einrichtung einer komplementären, subsidiären und föderalen Weltrepublik, deren genauere Gestalt in Auseinandersetzung mit fünf möglichen Einwänden entwickelt wird.

The globalisation is proceeding in different areas (economy, communication, culture …) and is leading to a world society in three dimensions: a "community of violence", a "community of cooperation", and a "community of need and suffering". All three dimensions create a need for global action which individual states cannot cope with. Under the assumption of a universal command of law and democracy the text is advocating the establishment of a complementary, subsidiary, and federal world republic whose precise nature is developed in discussion with five possible objections.


HORST DREIER
Erosionsprozesse des Verfassungsstaates

Nach einer kurzen Vorstellung der Kernelemente von Verfassungsstaatlichkeit - verfassunggebende Gewalt, Volkssouveränität, Grundrechte - werden am Beispiel des Grundgesetzes als Prototyp des modernen Verfassungsstaats aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen - das Auseinanderfallen von Staatsvolk und Adressatenvolk, sinkende Wahlbeteiligung, Tabuisierung von Themen im Wahlkampf und die Belastung künftiger Generationen - geschildert und in ihrer Bedeutung für die demokratische Legitimation der Staatsgewalt erläutert. Verf. zeigt insoweit Erosionsprozesse des Subjekts demokratischer Legitimation, des Staatsvolks, auf. Der gleiche Befund ergibt sich beim Objekt demokratischer Legitimation, der Staatsgewalt. Nach einer Bestimmung des Begriffs "Staatsgewalt" im nationalen Kontext und der Feststellung, daß auch die supranationale Ebene demokratischer Legitimierung bedarf, wird die Frage nach der Legitimierungsfähigkeit der europäischen Ebene erörtert. Sodann wendet sich die Analyse schwerpunktmäßig der Frage der Verfassungsfähigkeit Europas zu. Hier kann es wegen des fehlenden demokratischen Unterbaus in Europa eine demokratische Verfassung nach nationalstaatlichem Vorbild nicht geben. Am Ende steht die Frage, ob sich das Ende der Epoche der Verfassungsstaatlichkeit abzeichnet.

The modern state of the Western hemisphere ("Verfassungsstaat") is ruled by a written Constitution perceived as the 'paramount law' of the land. As demonstrated by the example of the German Basic Law ("Grundgesetz"), basic principles of this rule of constitutional law are the constituent power of the people as its basement and a frame of government as well as a bill of rights as its core elements. This well-known concept is confronted with current developments which may lead to its thorough revision or even deteriorization. The concept of the nation-state erodes as the number of those non-citizens who have to follow its rules without making them is growing steadily. Voters' abstinence and the rewriting of the public agenda by exclusion of topics which are "not well suited for the people" are directly connected. The second great development to be reviewed is the ever widening European Unification which threatens namely the rather rigid concept of democratic legitimation current in German Constitutional Law. This leads to the current project of an "European Constitution" which may have only the name in common with the old-fashioned Constitution of the Verfassungsstaat.


HENNING OTTMANN
Die "edle Lüge" und ihre Rolle in der Politik

In der "Politeia" hat Platon den Philosophenkönigen die "edle Lüge" erlaubt. Dabei handelt es sich um eine "Lüge" zum Wohle des Belogenen, vergleichbar der "medizinischen Lüge", die ein Arzt zum Wohl eines Patienten benutzt. Vorliegender Artikel fragt - ausgehend von Platon - nach der Rolle "edler Lügen" in der heutigen Politik. Dass solche Lügen in den demokratischen Gesellschaften von heute vielfach begegnen, wird nachgewiesen. Zugleich werden "edle Lügen" für die Zerstörung demokratischer Öffentlichkeiten und für die Entstehung politischen Vertrauensverlustes verantwortlich gemacht.

In Plato´s "Republic", the philosopher-kings are allowed to use the "noble lie" - a lie for the belied´s sake, comparable to a doctor´s "medical lie" for the benefit of the patient. Departing from Plato, this paper examines the role of the "noble lie" in present-day politics. The frequent use of such lies in today´s democratic societies is pointed out. "Noble lies" are shown to be destructive for the democratic public as well as for political confidence.