Aktuelles Heft
38. Jahrgang, 2021: „Zukunfts-Sichten zwischen Prognose und Divination“
Aus dem Vergangenen kommen und im Heute leben, aber wissen wollen, was die Zukunft bringt – dieser Wunsch nach Voraus-Wissen, nach „Pro-Gnosis“, gehört wohl zur conditio humana. Die Menschen haben im Laufe der Zeit je nach Kultur unterschiedlich ausgeformte Verfahren und Techniken der Zukunftsschau entwickelt. Die daraus erwachsenden Prognosen legitimieren sich durch Verfahren und erlangen Gültigkeit, indem sie mittels der Autorität der in ihrem jeweiligen Kontext maßgeblichen Institutionen und Narrationen beglaubigt werden. Dadurch bieten sie Orientierung und setzen Wirklichkeiten – Zukunftsdeutung schafft Bedeutung.
Die Formen und Gestalten der Zukunftsschau waren und sind dabei äußerst vielfältig. Neben intuitiven, charismatischen, auf Inspiration basierten oder durch Trance induzierten Techniken hat es beim Blick in die Zukunft immer auch Verfahren gegeben, die sich primär an formalisierten und kalkulatorischen Regelabläufen orientierten. Die unterschiedlichen Prozeduren schlossen sich nicht aus, sondern ergänzten und überschnitten sich. Heute werden Vorhersagen hauptsächlich auf der Grundlage quantitativer und qualitativer wissenschaftlicher Methoden erstellt und erhalten entsprechend der Ausdifferenzierung der modernen Lebenswelt in je spezifischen Problemfeldern ihre deutungsmächtige Relevanz.
Doch die Frage nach dem Verhältnis von Prognostik und Wissenschaft bleibt ebenso offen wie die nach dem Verhältnis von Zukunftsschau und Religion: Prognosen können sich als falsch oder defizitär erweisen, und sie stehen unter einem prinzipiellen Unsicherheits-Vorbehalt – dem „Gesetz des Jona“, so genannt nach der biblischen Erzählung, die sich durchaus auch mit Blick auf die Diskrepanz von angekündigter und eingetroffener Wirklichkeit lesen lässt. Dies nimmt der Vorhersage jedoch nichts von ihrer Attraktivität und Faszination, scheint sie in sich doch das Versprechen zu bergen, Kontingenz kontrollieren und die „richtigen“ Entscheidungen treffen zu können. Die Spannungen von Determination und Freiheit, Kontrolle und Kontingenz werden dabei in der Regel nicht aufgehoben, sondern auf eine Ebene transferiert, auf der sie Freiräume für konstruktive Entscheidungsdynamiken eröffnen und auf der konstruktive Aushandlungsprozesse ihre Arena finden können. Dessen ungeachtet bleibt die Plausibilität konkreter Prognosen wie auch prognostischer Verfahren strittig. Strittig bleibt zudem die Frage nach den Grenzen und Aporien des Prognostischen durch einen als eliminatorisch erfahrenen Einbruch des Kontingenten oder durch ein apriorisches Bestreiten der Möglichkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Enthalten sind die folgenden Beiträge:
Michael Lackner (Erlangen)
Eine »divinatorische Kultur par excellence«? Chinesische Wahr- und Weissagung im Vergleich
Joachim Gentz (Edinburgh),
Wenn, weil – dann. Besonderheiten altchinesischer Prognostik im »Xici«-Kapitel des Buches der Wandlungen und im Zuo zhuan
Nils P. Heeßel (Marburg),
Die altorientalische Divination als antikes Wissenschaftssystem
Aaron Schart (Essen),
Gegenwartsorientierung aus Zukunftsgewissheit
Michael Tilly (Tübingen),
Zukunftshoffnung und Gegenwartsdeutung. Prophetie und Apokalyptik im antiken Judentum und im Neuen Testament
Marco Frenschkowski (Leipzig),
Ambivalente Prognostiken. Zeichen am Himmel und ihre Mehrdeutigkeit im antiken Christentum
Marta Quatrale (Berlin),
Die Unvereinbarkeit zwischen Zukunftsprognose und Moraltheologie. Astrologie und Ethik bei Philipp Melanchthon
Brendan Dooley (Cork),
From Astrology to Astronomy. Renaissance and Early Modern Perspectives
Karl-Heinz Glaßmeier (Braunschweig),
Wetten, Wissen, Werten
Armin Grunwald (Karlsruhe),
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Hoffnung auf bessere Prognosen?
Richard Weiskopf (Innsbruck),
»Vorhersageprodukte«. Algorithmische Entscheidung, Profiling und die Kapitalisierung des Werdens
Rita Schmutzler, Kerstin Rhiem, Anja Tüchler (Köln),
Prädikation und Prävention in der Onkologie am Beispiel Brustkrebs
Birgitt van Oorschot (Würzburg),
Vom Umgang mit Prognoseunsicherheiten in sterbenahen Situationen in der Medizin
Dirk Evers (Halle),
Provisorisch leben. Prognostik zwischen Wissenschaft und Religion
Über den Verlag können die Printausgabe sowie die digitale Version des Bandes bezogen werden.