Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

27. Jahrgang, Heft 1/2010

Transformationsprozesse im globalen Christentum und ihre Auswirkungen auf Europa


KLAUS HOCK
Zu diesem Heft


ALLAN ANDERSON
Pentecostal Christianity as a Global Phenomenon: Migration, Diaspora, and Globalization

Die Pfingstbewegung hat eine entscheidende Rolle bei der Schwerpunktverlagerung des Christentums nach Süden gespielt und dazu beigetragen, dass dieses in der südlichen Hemisphäre seinen Charakter veränderte. Sie selbst setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen der Welt in Gestalt mehrerer Aufbruchsbewegungen ein, für die unter anderem die persönliche Erfahrung des Heiligen Geistes und eine ausgesprochene Nahzeiterwartung konstitutiv waren. Aufgrund des Widerstandes der etablierten Kirchen gründeten pentekostale Christinnen und Christen unabhängige Kirchen und organisierten sich in Netzwerken, die sich über den gesamten Globus verbreiteten. Dabei trafen Kirchen und Frömmigkeitsformen unterschiedlicher Herkunft aufeinander und traten in einen wechselseitigen Austausch – so beispielsweise die ab den 1920 Jahren entstandenen afrikanischen Aladurakirchen und die „klassischen“ Pfingstkirchen des Nordens. Die Interaktion mit den etablierten Kirchen wiederum führte zur Ausbildung sog. charismatischer Bewegungen innerhalb dieser Kirchen, die in den 1960er Jahren auch in der katholische Kirche zu einer bedeutsamen Strömung wurde. Aufgrund fortgesetzter Spannungen zwischen „Charismatikern“ und „Traditionalisten“ kam es schließlich zur Gründung neuer unabhängiger Kirchen, von denen einige zu „Mega-Kirchen“ heranwuchsen und mit ihrer Botschaft vom „Wohlstands-Evangelium“ besondere Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion erfuhren. Das Ende des kalten Krieges und die beschleunigte Globalisierung ab den 1990er Jahren förderten den weiteren weitweiten Aufschwung pentekostal ausgerichteter Kirchen, denen die globale Deregulierung auch in religiösen Angelegenheiten entgegen kam, so dass pfingstlich geprägtes Christentum im sog. „globalen Süden“ heute zu den am schnellsten wachsenden Formen des Christentums gehört. Angesichts der Vielfalt pfingstlicher Kirchen und Bewegungen stellt sich die Frage nach einer genaueren Definition von Begriffen wie „Pfingstbewegung“, „pfingstlich“ oder „pentekostal“. Obgleich alle diese Begriffe weithin wie selbstverständlich gebraucht werden, beschreiben sie doch äußerst disparate Erscheinungsformen. Um die Terminologie etwas zu schärfen, ist deshalb beispielsweise vorgeschlagen worden, unter Berücksichtigung theologischer Kriterien als „pentekostal“ jene Formen des christlichen Glaubens zu bezeichnen, für die Geisteswirken, Wunderglaube und expressive Formen des Gotteslobs konstitutiv sind. Aber selbst solche Festlegungen suggerierten ein „Meta-Modell“ von Pentekostalismus, das so nicht existiert. Um sich eine erste Orientierung zu verschaffen, ist es allerdings immer noch hilfreich, von Hollenwegers dreifacher typologischer Einteilung des globalen Pfingstchristentums in klassische Pfingstkirchen, charismatische Erneuerungsbewegung und pentekostale bzw. pfingstlich orientierte unabhängige Kirchen auszugehen. Darauf aufbauend, wird im vorliegenden Beitrag eine Klassifizierung in vier Typen vorgeschlagen: (1) Klassische Pfingstkirchen, die den Aufbruchsbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts verbunden sind und sich nochmals in vier Untergruppen aufteilen: jene, die ihre Wurzeln in der Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts haben (Holiness Pentecostals); die täuferisch oder am Glauben an die „Abgeschlossenheit des Gnadenwerks“ orientiert sind (Baptistic oder Finished Work Pentecostals; die als „Einheits-Pentekostale“ die Trinitätslehre ablehnen (Oneness Pentecostals); und die als Apostolische Pfingstler die Autorität zeitgenössischer Apostel/-innen oder Propheten/-innen hervorheben (Apostolic Pentecostals). (2) Ältere charismatische Bewegungen (katholische, anglikanische und protestantische Charismatiker), die innerhalb der etablierten Kirchen verblieben sind. (3) Ältere Unabhängige Kirchen und Geistkirchen, die ihren Schwerpunkt im globalen Süden haben, wie beispielsweise die Afrikanischen Geistkirchen, die „älteren Drei-Selbst-Kirchen“ in China oder viele andere unabhängige Pfingstkirchen, die in Asien und Lateinamerika zwischen den 20er und den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet wurden. (4) Neo-pentekostale und neo-charismatische Kirchen, die seit den 1970er Jahren entstanden sind und noch verschiedene Untergruppen umfassen, wie die „Glaubenswort-Kirchen“, die Gesundheit und Reichtum als Frucht des Glaubens betonen (Word of Faith Pentecostals); die „Dritte-Welle-Pfingstkirchen“, die Bekehrung und Geistestaufe in eins sehen und die Bedeutung von Geistesgaben in den Vordergrund rücken (Third Wave Pentecostals); Neuapostolische Pfingstkirchen, für die eine apostolische Führungsstruktur typisch ist (New Apostolic Churches), und – als wohl größte und am weitesten verbreitete Gruppe – die vielen anderen unabhängigen Kirchen, die in ihrer theologischen Ausrichtung extrem variieren und deshalb nicht eindeutig zuzuordnen sind. Bei alledem ist in Rechnung zu stellen, dass der Terminus „Neo-pentekostale“ ein recht dehnbarer Begriff ist, der nicht konsistent verwendet wird und dessen Bedeutung sich in den letzten Jahren mehrfach gewandelt hat.

Pentecostalism has played a major role in the shifting southwards of world Christianity and the changing of its nature in the global South. This article considers the historical events that brought this about, the migratory and missionary nature of Pentecostalism, and the characteristics and varieties of the movement in the contemporary world. It concludes with a broad taxonomy of Pentecostalism to facilitate understanding the subject.


WERNER USTORF
„The Beast from the South“ und das „Ende des liberalen Christentums“

Zunächst wird das ungewöhnlich anregende Bild dargestellt und problematisiert, das Philip Jenkins von den gegenwärtigen Trends des Weltchristentums gezeichnet hat. Ein Blick auf die ökumenische Diskussion dieser Frage seit der Dekolonisation fügt weitere Facetten und Nuancen an. Tieferliegende Schichten der interkulturellen Bewegung des Christentums im Übergang nach Süden kommen an die Oberfläche mit Hilfe einer Fallstudie zu Zentralaustralien. Abschließend wird gefragt, ob die Sakralisierung modernistischer Gewissheiten als Kommunikationsbarriere im Weltchristentum wirkt.

In the first section, I am describing and questioning the unusually interesting picture that Philip Jenkins has painted of the current trends dominating global Christianity. Another look at the ecumenical discussion of this matter since the period of decolonization adds further colour and design. A subsequent case study located in Central Australia reveals the deeper layers of the intercultural movement of Christianity travelling south. Finally, the question is discussed whether one of the barriers to communication in global Christianity might be the sacralization of modernist assumptions.


GIANCARLO COLLET
Implikationen der globalen Transformation des Christentums für die römisch-katholische Kirche

Der Beitrag stellt aktuelle empirische Daten zur Schwerpunktverlagerung der Weltchristenheit vom Norden in den Süden zusammen und leitet aus damit zusammenhängenden Phänomenen kirchliche und theologische Implikationen ab. Der Blick auf die communio-Theologie des Zweiten Vaticanums führt unter anderem zu der Forderung einer stärkeren Eigenständigkeit der Ortskirchen sowie nach einer umfassenden ökumenischen Solidarität.

This article takes its starting point in empirical facts concerning the shift of the main area of global Christianity from North to South and deduces some ecclesiastical and theological implications of this phenomenon. A look at the communio-theology of Vatican II demands for more independence of local churches and at the same time for a comprehensive ecumenical solidarity.


FRIEDER LUDWIG
Die italienische Invasion in Äthiopien 1935/36 und die Intensivierung ökumenischer Süd-Süd-Beziehungen

Der italienisch-äthiopische Krieg war für die Dynamik der Süd-Süd Beziehungen von außerordentlicher Bedeutung. Da Äthiopien sowohl in politischer wie auch in kirchlicher Perspektive Symbolcharakter zukam, formierten sich nicht nur in West- und Südafrika Protestbewegungen, sondern auch in Indien, Japan, auf Jamaika oder unter der afroamerikanischen Bevölkerung der USA. In Äthiopien vollzog sich durch diese Solidarisierung eine Neugewichtung der internationalen Beziehungen; man orientierte sich nun mehr an panafrikanischen und emanzipatorischen Strömungen.

The Italian-Ethiopian War was of extraordinary significance for the dynamic of South-South relations. In both political and ecclesial perspective, Ethiopia was seen as a symbol, and there were strong protests against the Italian invasion not only in West- and South Africa, but also in India, Japan, Jamaica and among the Afro-Americans in the USA. This solidarity led to a new prioritization of international relations in Ethiopia which now became more oriented towards pan-African and emancipatory movements.


HEIKE WALZ
Interkulturelle Theologie und Geschlecht. Herausforderungen für Europa am Beispiel lateinamerikanischer Theologinnen

Der Artikel untersucht am Beispiel lateinamerikanischer Theologinnen, welche Herausforderungen sich für die Diskurse über interkulturelle Theologie und Geschlecht in Europa stellen: Die Würdigung des oft unsichtbar gemachten lateinamerikanischen Kulturschaffens am Beispiel von Sor Juana Inés de la Cruz (1651–1695) als interkulturelle, ästhetische Theologin; lateinamerikanische Theologie von Frauen als Teil spiralförmiger interkultureller Dialoge zwischen Süd und Nord; die Forderung, sich an der „kolonialen Wunde“ und der „Zerrissenheit auf zwei Wegen (nepantla)“ im gegenwärtigen Kontext der Migration zu orientieren. Der Artikel plädiert für eine Dekonstruktion euroamerikazentrierten Konzeptionen von Geschlecht in interkultureller Theologie und Gender Studies.

Taking the contributions of Latin American theologians as an example, the article analyzes the challenges for European discourses about intercultural theology and gender: An appreciation of the particular, but often invisible Latin American cultural work by taking the example of Sor Juana Inés de la Cruz (1651–1695) as an intercultural and aesthetic theologian; Latin American Women’s theology as forming part of spiral intercultural dialogues between the South and the North; asking for the orientation towards “the colonial wound” and “the brokenness into two paths (nepantla)” in the present contexts of migration. Finally, the article calls for a deconstruction of Euro-American centred conceptions of gender in intercultural theology and gender studies.


MORITZ FISCHER
Die Konstituierung der Pfingstbewegung zwischen Zentrum und Peripherie. Die historische Erforschung der globalen Pfingstbewegung und ihre Verortung als weltumspannendes und zwischen ,Zentren‘ und ,Peripherien‘ changierendes ,Beziehungsgeflecht‘

Die sich diversifizierende Christenheit wächst und transformiert sich an „Peripherien“. Diese werden scheinbar von „Zentren“ aus bestimmt, welche ursprünglich auf den Kontinenten und Ländern der nördlichen Hemisphäre verortet wurden, wo sich lange das ökonomische und das soziale Kapital konzentrierte. Im Zusammenhang mit der Globalisierung kommt es zu Schwerpunktverlagerungen, was die Machtkonzentrationen betrifft. Ehemalige „Peripherien“ werden zu „Zentren“. Sie stehen weiterhin in wechselseitigen Beziehungen zu bisherigen „Zentren“, die nun, nicht nur bei bestimmter Fokussierung des Betrachters, sondern aufgrund empirischer Nachprüfbarkeit, auch als „Peripherien“ identifizierbar werden. Dabei ist es aber auch relativ vom Standpunkt des Betrachters aus und von den Kriterien, die er anlegt, was als „zentral“ und was als „peripher“ zu gelten hat. An einem konkreten Beispiel aus der Pfingstkirchenforschung wird diese These in den folgenden Ausführungen nachvollziehbar gemacht: Die als weltumspannendes „Beziehungsgeflecht“ zu identifizierende Pfingstkirche FEPACONzambe- Malamu mit ihrer selbstständigen Tochterkirche IFEPAA-Bom- Deus lässt erkennen, wo und wie es weltweit gesehen zu neuen Konzentrierungen und Abschwächungen von religiösem und sozialem „Kapital“ kam. Es wird auch nachvollziehbar, welchen Kräften, die das Reich Gottes herbeisehnen, die diesbezüglichen performativen Äußerungsakte unterworfen sind.

A diversifying Christianity is growing and transforming itself at the “peripheries”. These are said to be determined by “centres” which were originally located in the northern hemisphere where the economic and social capital used to be concentrated for a long time. In the context of globalization shifts in emphasis take place where the concentration of power is concerned. Former “peripheries” become “centres”. They continue to maintain mutual relationships with former “centres” that now – not just due to a certain focus of the observer, but empirically provable – become identifiable as “peripheries”, too. However, what has to be regarded as “central” and what as “peripheral” is also dependent on the point of view of the observer and the criteria applied. With the help of a concrete example from the research on Pentecostal churches this thesis will be made understandable: the Pentecostal church FEPACO-Nzambe-Malamu with its independent subsidiary church IFEPAA-Bom-Deus that can be seen as a “worldwide network of relationships” makes us realize where and how – worldwide – new concentrations of and decreases in religious and social “capital” have come about. It will also become clear to what powers, while longing for the Kingdom of God, the performative speech acts are subject to.


ANDREAS NEHRING
Das „Ende der Missionsgeschichte“ – Mission als kulturelles Paradigma zwischen klassischer Missionstheologie und postkolonialer Theoriebildung

100 Jahre nach der Weltmissionskonferenz von Edinburgh hat die Frage nach der „Mission“ wieder neu an Bedeutung gewonnen. Können wir aber überhaupt noch von „Missionsgeschichte“ sprechen, oder haben die Ökumenische Bewegung und die Entwicklung verschiedener kontextueller Theologien und unabhängiger Kirchen zu einem „Ende der Missionsgeschichte“ geführt? In diesem Beitrag wird die Beziehung zwischen westlichmissionarischen Konzepten von „Kirche“ und neuen Formen christlicher Identität diskutiert und der Frage nachgegangen, wie sich diese Formen im Prozess der Übersetzung des Evangeliums in neue Kontexte entwickelt haben.

100 years after the World Missionary Conference in Edinburgh the question of Mission has gained a new momentum. Can we still speak of Mission- History or have the Ecumenical Movement as well as the development of various contextual theologies and independent Churches led to an end of the History of Mission? The article discusses the relationship between European missionary concepts of Church and new forms of Christian identity and how these forms have been developed in the process of translating the Gospel into new contexts.