Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

23. Jahrgang, Heft 1/2006

Erinnerung und Geschichte


JENS SCHRÖTER
Geschichte im Licht von Tod und Auferweckung Jesu Christi. Anmerkungen zum Diskurs über Erinnerung und Geschichte aus frühchristlicher Perspektive

Der erste Teil des Beitrags geht auf die gegenwärtige Diskussion um Gedächtnis und Erinnerung in der Geschichtswissenschaft ein. Dabei ergeben sich insbesondere zwei Fragen: Erstens: Wie lässt sich eine auf fragilen Gedächtniskonstruktionen basierende Geschichte von Fiktion unterscheiden? Zweitens: Wie verhält sich die sogenannte „Gedächtnisgeschichte“ zu einer an Quellen orientierten Geschichtsschreibung? Der zweite Teil geht diesen Fragen anhand der beiden neuen Entwürfe von Johannes Fried und Paul Ricoeur nach. An den Ansatz von Fried sind dabei einige kritische Rückfragen zu richten. Im dritten Teil wird nach der Grundlage einer christlichen Sicht auf Geschichte und Wirklichkeit gefragt. Dazu wird auf drei frühchristliche Entwürfe eingegangen: Paulus, das Johannesevangelium und die Apokalypse des Petrus aus Nag Hammadi. Es zeigt sich, dass das Geschehen von Tod und Auferweckung Jesu bei der Ausbildung des christlichen Geschichtsverständnisses nicht verdrängt oder verharmlost wurde. Es wurde zwar unterschiedlich verarbeitet, bildete aber die Grundlage für die Interpretation von Wirklichkeit und Geschichte im Licht des Handelns Gottes. Am Beispiel der Apokalypse des Petrus wird dabei zugleich die Kontroverse um eine „doketische“ Christologie erkennbar, die zu einem anderen Geschichtsverständnis führt.

The first part of this article deals with the meaning of “memory” and “remembrance” in current discussions in historiography. Thereby two questions emerge. First: How can an approach to history, based on fragile constructions of memory, be differentiated from pure fiction? Second: How is a memory-based form of historiography related to a history developed from sources? The second part introduces the new books of Johannes Fried and Paul Ricoeur, which deal with these problems. The approach of Fried has to be confronted with some critical remarks. The third part deals with the interpretation of history and reality from a Christian viewpoint by looking at three concepts from early Christianity: Paul, the Gospel of John and the Apocalypse of Peter from Nag Hammadi. It becomes apparent that Jesus’ death and resurrection were interpreted in different ways, but not edged out or played down. To the contrary, they play a central role for a Christian view on reality, based on God’s activity in history through Jesus Christ. The Apocalypse of Peter by the same time highlights the controversy with a “docetic” Christology, which eventually leads to a different understanding of history.


KNUT BERNER
Vergessen – Verzeihen – Eingedenken. Das Gedächtnis als Thema theologischer Anthropologie

Theologischer Anthropologie zufolge ist der ganze Mensch als gerechtfertigter Sünder anzusehen. Von dieser dialektischen Sicht ist auch das menschliche Gedächtnisvermögen betroffen, das sich daher einer vorschnellen und eindeutigen Einschätzung entzieht. Über die Bedeutung und Bewertung von Erinnern und Vergessen wird erst im eschatologisch vollzogenen Gericht Gottes endgültig entschieden, bis dahin sind Gedächtnisleistungen als ambivalent einzuschätzen. Der vorliegende Aufsatz verknüpft die Einsicht in diese Ambivalenz des Gedächtnisses mit ethischen Überlegungen und entfaltet die These, dass das schwere Verzeihen nicht nur als menschlicher Willensakt zu verstehen ist, sondern auch von der Fähigkeit zum Vergessen abhängig ist. In Auseinandersetzung mit W. Benjamins Verständnis des „Eingedenkens“ wird in eschatologischer Perspektive dargelegt, dass Gottes Handeln auf die endgültige Überwindung der Sünde abzielt, zu der auch eine Befreiung des Gedächtnisses gehört.

According to theological anthropology man as a whole is a justified sinner. This dialectical point of view also affects the human ability to remember. It thus cannot be interpreted hastily or unequivocally. The importance and evaluation of remembrance and oblivion are adjudicated upon definitely in God’s eschatological Last Judgement. Until that day our remembrance must be seen as ambivalent. The essay combines this perception with ethical considerations and develops the thesis that the difficult act of forgiveness cannot only be interpreted as an human act of volition but also depends on the ability of oblivion. In discussing W. Benjamin’s definition of “Eingedenken” (remembrance) it is suggested from an eschatological perspective that God’s acting aims at the definite abolition of sin that comes together with a mnemonic liberation.


DIETRICH ZILLESSEN
Am Rande der Vergangenheit. Über die Inszenierung der Erinnerung

Gedächtniskultur hat mit Erinnern und Vergessen zu tun. Erinnerung ist eine Inszenierung voller Spannungen, Probleme und Rätsel. Sie stellt eine neue Vergangenheit her, deren auftauchende Bilder und Bildfragmente sie „eigensinnig“ arrangiert. Am Beispiel von Spielfilmen wird gezeigt, welche unbewussten Prozesse sich mit und in den Bildern (des Films, der Erinnerung) abspielen. Im Kino der Erinnerung spielen Zuschauer und Zuschauerinnen Rollen, in denen sie sich manchmal selbst überschreiten.

Memory culture is something about remembering and forgetting. Memory is a setting full of tension, problems and mysteries. It constructs a new past arranging the emerging pictures and fragments of pictures in its own way. Taking film sequences as examples, the unconscious processes are shown which happen with and within the pictures (of the film, of the memory). In the cinema of memory, spectators are playing roles in which sometimes they pass beyond the images of themselves.


KARL-HEINRICH BIERITZ
Verschränkung der Zeiten. Der Gottesdienst als Ort kontrapräsentischer Erinnerung

Folklorisierung und Musealisierung, so meinen manche, minimieren mehr und mehr die kulturelle Relevanz des Christentums und seiner Feierformen in der westlichen Welt. Angesichts solcher Prozesse, aber auch eines wachsenden Bedarfs an Vergangenheit gewinnt die Frage nach der angemessenen Vergegenwärtigung der großen christlichen Erzählung von der versöhnenden Liebe Gottes an Gewicht: Wird sie in Gottesdienst und Predigt mimetisch-anamnetisch „entzündet“ und fortgeschrieben, kann sie als „Gegen-Geschichte“ kulturell dominante Geschichtskonstruktionen unterlaufen und „die Erfahrung des Anderen“ ermöglichen (Jan Assmann).

By giving in to folklore and leisure, as some may say, the cultural relevance of Christianity with its different forms of festivities in the Western world is increasingly minimized. In view of such processes but also in the light of a growing need for a past the question about the adequate realization of the great Christian narrative of God’s reconciling love becomes increasingly important: by “igniting” and renarrating it mimetically-anamnetically, it can become a “counter-narrative”, thus undermining culturally dominant narrative constructions and enabling “the experience of the other” (Jan Assmann).


HARALD SCHULTZE
Deutschsprachige evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Erwägungen für ein Gedenkbuch

Im 20. Jahrhundert hat die evangelische Christenheit bitter erfahren müssen, dass es zu Märtyrerschicksalen im eigenen Land gekommen ist. Mit den Kirchen Europas gedenken wir der Neomärtyrer aus der Zeit der Oktoberrevolution und der Diktaturen unter Stalin und Hitler. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat deshalb ein Buch erstellen lassen, das dem Gedächtnis der Christinnen und Christen aus dem deutsprachigen Raum gewidmet ist, die in der Kraft ihres Glaubens dem Unrecht widerstanden oder sich für andere eingesetzt und deshalb den Tod erlitten haben. Nicht nur für die Gemeinden, sondern auch theologisch ist es unerlässlich, das Gedächtnis der Märtyrer lebendig zu erhalten.

In the 20th century German protestant Christianity experienced bitterly, that in its own country martyrdoms had happened. Together with the churches of Europe we commemorate the neo-martyrs of the times of the October-revolution and the dictatorships of Stalin and Hitler. For this reason the Evangelische Kirche in Deutschland (protestant church in Germany) published a book dedicated to Christians in the German-speaking areas, who resisted injustice by the power of their faith or who helped others and therefore suffered death. Not only for the parishes but also theologically it is essential to maintain the memory of these martyrs.


CILLIERS BREYTENBACH
Perspektiven der Erforschung des Diasporajudentums und frühen Christentums. Zum Gedenken des 100. Geburtstags Gerhard Dellings

Der Aufsatz bietet einen Überblick über die wichtigsten Werke des Hallenser Neutestamentlers Gerhard Delling (1905–1986) zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gleichzeitig wird versucht, die Bedeutung Dellings für die Erforschung des Urchristentums im Kontext des Diasporajudentums herauszustellen.

The essay gives an overview over the oeuvre of the New Testament scholar, Gerhard Delling (1905–1986) who taught in Halle in eastern Germany. His most important works on the New Testament and on Hellenistic Judaism are discussed and their importance for research on early Christianity in the context of Diaspora Judaism is underscored.


KARL-WOLFGANG TRÖGER
Existenz im Glauben. Zum 100. Geburtstag der Religionsphilosophin Liselotte Richter

Prof. D. Dr. phil. habil. Dr. theol. Liselotte Richter war die erste Frau in Deutschland, die einen Lehrstuhl für Philosophie und danach einen Lehrstuhl an einer Theologischen Fakultät (Religionsphilosophie) erhielt. Sie lehrte an der Humboldt-Universität von 1946 bis 1964 und wurde durch Bücher und Vorträge im In- und Ausland bekannt.

Prof. D. Dr. phil. habil., Dr. theol. Liselotte Richter was the first woman in Germany to hold a chair of philosophy and, subsequently, a chair at a faculty of theology (philosophy of religion). She taught at the Humboldt-University from 1946 until 1964 and became known in Germany and abroad through her books and lectures.


ULRICH KÖRTNER
Ein Bild, das uns gleich sei. Christliche Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter

Menschenbilder sind das Ergebnis komplexer kultur- und religionshermeneutischer Prozesse. Das gilt auch für die christliche Anthropologie. Die biotechnologische Entwicklung darf daher nicht einseitig zum Gegenstand ethischer und theologischer Kritik gemacht werden. Sie muss auch als Herausforderung begriffen werden, christliche Traditionsbestände neu zu interpretieren. Das ist eine Aufgabe theologischer Hermeneutik. Technikkritik und Technikhermeneutik stehen in einem dialektischen Wechselverhältnis zueinander.

Ideas of man are the result of complex cultural and religious hermeneutical processes. That applies for Christian anthropology, too. Thus, biotechnological development must not lopsidedly be made the subject of ethical and theological critique. It must be understood as a challenge to newly interpreting Christian traditions. This is one of the tasks of theological hermeneutics. Critique of technique and hermeneutics of technique stand in a dialectic relationship to each other.