Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

20. Jahrgang, Heft 2/2003

Gewalt und Widerstand


JENS SCHRÖTER
Gewaltverzicht und Reich Gottes

Die Erfahrung von Gewalt im Urchristentum steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu Jesus. Der erste Teil des Beitrags macht anhand von Beobachtungen zu Texten aus der ältesten Jesusüberlieferung deutlich, dass der historische Kontext der frühen Jesusbewegung eine innerjüdische Kontroverse um den Anspruch Jesu war, der von seinen Anhängern aufgegriffen und weitergetragen wurde. Angesichts von Feindschaft und Verfolgung verweisen sie dabei, so der zweite Teil, auf das Gericht Gottes, in dem sie selbst gerechtfertigt, die Verfolger dagegen verurteilt werden. Jesu Aufforderungen zu Gewaltverzicht und Feindesliebe, die verschiedene Rezeptionen in Q, bei Mt und Lk sowie bei Paulus in Röm 12 erfahren haben, sind vor diesem Hintergrund als „paradoxe Interventionen“ angesichts des angebrochenen Gottesreiches zu verstehen. Nicht das Hinnehmen des Unrechts wird gefordert, sondern dessen provokative Verdopplung. Die Weisungen zum Umgang mit Gewalt erweisen sich damit als Bestandteil der Botschaft Jesu von der sich gegenwärtig durchsetzenden Gottesherrschaft, die im Wirken seiner Anhänger zeichenhaft verwirklicht werden soll. Das Urchristentum hat dabei eine „Ethik der Einseitigkeit" bewußt einkalkuliert, die das Gericht über den Feind Gott anheimstellt. Dies ist auch für die gegenwärtige Diskussion um eine christlichen begründeten Umgang mit Gewalt von Belang.

In early Christianity violence was an immediate consequence of following Jesus. In the first part of this article it is argued on the basis of some texts of the earliest Jesus tradition that the historical context of violence for Jesus’ first followers was an inner-Jewish controversy concerning Jesus’ authoritative claim to repentance which was taken up by his followers. As is shown in the second part, the reference to God ’s final judgement in which the followers will be saved, whereas the persecutors will be condemned, forms the counterpart of this claim. Jesus’ challenge to nonretaliation and love of enemy,,incorporated in slightly different ways in Q, Mt, Lk and Rom 12 should be interpreted against this background as “paradoxical interventions” in view of God’s dawning kingdom. Jesus does not appeal for passivity,but for the provocative doubling of sustained injustice. This challenge forms an integral part of his message of God’s kingdom, which shall be realised symbolically by his followers.Consequently, early Christian ethics was, at least partially, characterised by a conscious one-sidedness in which the judgement on the enemy was regarded as God’s own responsibility. Present discussion about Christian perspectives on violence should consider these aspects seriously.


JAN BAUKE-RUEGG
Gottes Macht und die Gewalt der Menschen

Ereignisse wie der 11.September 2001 evozieren die Frage, ob letztlich nicht Gott für die Eskalationen menschlicher Gewalt verantwortlich zu machen ist. Der vorliegende Essay geht der Frage nach, was Gott und seine (All)Macht selbst mit Gewalt zu tun hat (I.), sucht im Anschluss an René Girards jüngstes Buch zu klären, wie es überhaupt zu Gewalt kommt (II.)und ob und wie Gott menschlicher Gewalt zu widerstehen vermag (III.).

Dates like the 11th of September raise the question whether God can be made responsible for the escalation of human violence. The article focuses on the relations of God ’s omnipotence an the one hand and violence on the other hand (I.). Out of a critical analysis of Rene Girard ’s newst publication the author discusses roots of violence (II.). The author finally asks: Is God able to resist violence (III.)?


MICHAEL HEYMEL
Sühnopfer Christi – Kann man das heute noch predigen?

Dass Gott das Sühnopfer eines unschuldig Gekreuzigten benötige, wird in der Neuzeit immer wieder als unbegreifliche Zumutung der kirchlichen Versöhnungs- und Erlösungslehre empfunden und abgewehrt. Der Autor plädiert dafür, den Sühne- und Opferbegriff sachkritisch neu zu formulieren und selbstkritisch zu verwenden. Daher wird sprachgeschichtlich, hermeneutisch, dogmatisch und exegetisch untersucht, was Sühne und Opfer im Zusammenhang der Passion Jesu und seines Todes am Kreuz bedeuten. Der Aufsatz zeigt, dass nur auf Grund der christologischen Erkenntnis, Gott selbst sei in Jesus Christus an die Stelle aller Menschen getreten, den Hörern gepredigt werden kann, dass der Kreuzestod Jesu für sie soteriologisch relevant ist. Zuletzt wird dargestellt,wie man die homiletische Aufgabe wahrnehmen kann, Christus als den Gekreuzigten zu predigen (IKor 1,23), der sein Leben hingegeben hat als Sühne für unsere Sünden. Erörtert werden klassische Formen und Mittel zur Anschauung des Kreuzes, außerbiblische Faktoren, die das Verständnis des Kreuzestodes Jesu beeinträchtigen, und der liturgische Kontext der Karfreitagspredigt.

The notion that God should need the expiatory sacrifice of an innocent crucified has been experienced and rejected again and again as an incomprehensible and unreasonable demand of the ecclesiastical doctrine of reconciliation and redemption in the modern era. The author pleads for a critical reformulation and a selfcritical use of the terms ‚atonement‘ and ‚sacrifice‘. Therefore he scrutinizes with regard to linguistic history, hermeneutics, dogmatics, and exegesis the meaning of atonement and sacrifice in the context of Christ’s passion and crucifixion. What the essay shows is this: Preaching that Christ’s death on the cross is essential to the listeners salvation is only possible on the basis of the christological insight that in Jesus Christ God himself has taken the place of all human beings. Lastly the author describes how to perform the homiletic task of preaching Christ crucified (1 Cor 1:23), who gave his life in expiation of our sins. Classical forms and means of contemplating the cross, extra-biblical factors impairing the understanding of Christ ’s death on the cross, and the liturgical context of the sermon on Good Friday are being discussed.


THOMAS BOHRMANN
Kriegsinszenierungen als Gegenstand der Unterhaltung?

Der medienethische Beitrag, der sowohl deskriptive als auch normative Analysen enthält, untersucht die Frage, ob man sich durch fiktive Kriegsinszenierungen in Form von Kriegsfilmen unterhalten lassen darf. Mit einem komplexen Unterhaltungsbegriff, der durch den Terminus der Delektation (delectatio ) ausgedeutet werden soll, wird das Kriegsgenre in einem größeren Kontext gestellt und aus rezeptionsästhetischer sowie medienethischer Perspektive behandelt. Der Kriegsfilm thematisiert reale Gewalterfahrungen und bereitet diese fiktional auf. Dadurch werden militärische Auseinandersetzungen mit all ihren Schrecken bebildert und warnend in kollektiver Erinnerung gehalten. Allerdings sind nicht alle Inszenierungsstrategien aus medienethischer Perspektive legitim. Die vorgestellten inhaltsethischen Kriterien markieren hier Verbotsnormen und bestimmen somit die Grenzen medialer Kriegspräsentation. Daneben tritt Medienethik immer auch für eine stärkere Berücksichtigung der Medienpädagogik ein, durch die der Aufbau von Medienkompetenz vermittelt werden soll. Im Rahmen medienpädagogischer Arbeit können Kriegsfilme beispielsweise als Gesprächsgrundlage für vergangene oder aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen dienen.

Using the descriptive and normative elements of media ethics, this article addresses the question of whether man should be allowed to entertain using fictitious descriptions of war in the form of war movies. Interpreting the complex idea of ‚entertainment’ that these movies provide through the use of the concept of delectation (delectatio ), puts the entire war movie genre in a bigger context and views it from the perspective of aesthetics and ethics: the war movie considers real experiences of violence but puts them in fictitious forms. In this way, military conflicts are shown with all of their capabilities to frighten, but also are placed in the collective consciousness as a warning. Not all fictitious depictions of war are legitimate from the perspective of media ethics, however, and ethical criteria are needed to set norms and limits on the presentation of wars and conflicts. In addition, media ethics also strives for stronger involvement of education to ensure that competence exists in the field. In the context of this education, war movies could be used, for example, as the basis of discussions on past or present military conflicts.


THOMAS AUCHTER
Gewalt und Widerstand

Nach dem Versuch einer Begriffsdefinierung von Aggression, Gewalt und Widerstand wird der Psychodynamik und Psychogenese der Phänomene nachgegangen. Die Frage angeborener destruktiver Aggression oder anerzogener Gewalt wird eher in Richtung der lebensgeschichtlichen Produktion von Gewalt diskutiert. Sexuelle Gewalt, terroristische Gewalt und mediale Gewalt werden einer gesonderten Untersuchung unterzogen. Ausgehend von ethischen Problemen "Gewalt und Gewissen", wird nach der Zukunft der Gewalt im 21.Jahrhundert gefragt. Die Aneignung und Integration aggressiver und destruktiver "böser" Persönlichkeitsanteile kann ihre ‚Äußerung‘ in Form von Projektionen und dem Zwang andere leiden zu machen, eingrenzen.

After an attempt to define concepts of aggression, violence and resistance the author looks into psychodynamics and psychogenesis of these phenomena.The issue of innate destructive aggression or educational upbringing of violence is discussed rather in direction of it’s production in lifehistory. Sexual violence, terrorist violence and violence of media is investigated separately. Starting from ethical problems,‘violence and conscience’, the question regarding violence in 21 st century is raised.Acquisition and integration of aggressive and destructive ‘evil ’ parts of personality helps to limit their expression as projection and compulsion causing someone else to suffer.


TRAUGOTT VOGEL
Heinrich Vogels Beiträge zur Predigtlehre

Beiträge zur Predigtlehre stehen am Beginn von Heinrich Vogels theologischem Lebenswerk. In den Veröffentlichungen, mit denen er am Ende der 20er Jahre hervortritt, weitet er die Einsichten der frühen dialektischen Theologie auf die materialen und formalen Probleme der Predigt aus. Als erster bezieht er auch die homiletische Aufgabe bei der Trauung und bei der Beerdigung in diese Reflexionen ein. Durch den Rückgriff auf ungedruckte Quellen lassen sich die Anfänge von Vogels Theologie nachzeichnen. Der Blick auf das systematische Hauptwerk zeigt die hohen Konsistenz seines Denkens.

Contributions to the field of homiletics stand at the outset of Heinrich Vogel’ s theological life’ s work. In the publications with which he emerged at the end of the 1920s, he extended the insights of early dialectic theology to encompass the material and formal problems with regard to sermons. He was also the first to include the homiletic responsibilities pertaining to weddings and funerals in these reflections. Through the consideration of unprinted sources, it was possible to trace the beginnings of Vogel’ s theology. A look at his principal systematic work demonstrates the tremendous consistency of his thinking.