Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

27. Jahrgang, Heft 2/2010

Das Gewissen — Wahrnehmung und Deutung


MICHAEL ROTH
Moral, Gewissen und Sünde. Überlegungen zur Selbstreflexion

Das Essay erkundet die Rede von Gewissen innerhalb unserer Selbstreflexion. Das Gewissen macht sich als bedrängendes Gefühl bemerkbar, dass wir in einer Differenz mit uns selbst stehen und drängt uns zur Selbstreflexion. Allerdings ist diese Differenz mit uns selbst im Phänomen des Gewissens nicht bereits adäquat erfasst. Diese geschieht erst in der Rede von der Sünde, die zeigt, dass wir in Widerspruch zu unserer Bestimmung, auf das eigene Gerechtsein zu verzichten, stehen.

The essay explores the discourse about consciousness within our self-reflection. Our consciousness makes itself felt in the oppressing awareness that we diverge from ourselves, thus urging us to reflect upon ourselves. Yet the phenomenon of consciousness eventually fails to adequately grasp this divergence from ourselves that we live in. This can only be achieved by the discourse of sin, which exhibits that we live in contradiction to our destination, i.e., to abstain from our will to be righteous.


MARTIN BOROWSKI
Gewissen und Rechtspflicht

Gewissensentscheidungen können mit Rechtspflichten kollidieren. Im System der Grundrechte des Grundgesetzes, in dessen Zentrum die Menschenwürde steht, werden Gewissensentscheidungen des einzelnen in aller Regel gegen kollidierende Rechtspflichten abgewogen. Dieses Abwägungsmodell ist anderen Modellen, in denen die Gewissensfreiheit von vornherein eng verstanden wird, vorzuziehen.

Legal obligations can contradict the conscience of the individual. In the system of constitutional rights of the German Basic Law with human dignity at its centre, legal obligations are regularly balanced against the individual's decisions in matters of conscience. This balancing model is to be preferred to understanding freedom of conscience narrowly from the outset.


EBERHARD SCHOCKENHOFF
Normative Funktion des Gewissens?

Der Beitrag analysiert die klassischen theologischen Gewissenstheorien von Augustinus, Thomas von Aquin und Martin Luther unter der Fragestellung, inwieweit sie eine normative Funktion des Gewissens kennen. Leitfaden dazu ist das kritische Urteil Heideggers über die „vulgären“ Gewissensdeutungen der Tradition. Das Gewissen ist demnach der primäre Ort der Gottesbegegnung. Dessen wichtigste normative Funktion ist es, dem Einzelnen den Weg des moralischen Selbsteinsatzes vor Augen zu stellen.

The article examines the classical theological conscience theories of Augustine, Thomas Aquinas and Martin Luther on the question whether they include a normative function of con-science. Guideline is Heidegger's critical verdict on "vulgar" conscience interpretations of tradition. Conscience is thus the primary site of the encounter with God. Its most important normative function is to provide the path of moral self-commitment for the individual.


ULRICH BARTH
Reformatorisch-theologischer und neuzeitlich-philosophischer Gewissensbegriff. Variationen eines Schlüsselthemas der Ethik

Vorliegende Studie befasst sich, ausgehend vom reformatorischen Gewissensbegriff Luthers, mit nachfolgenden Hauptstationen der Theorie des Gewissens bei Christian Wolff, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte. Es wird der Weg nachgezeichnet von der rein vernunftimmanenten Rekonstruktion beim Begründer der Hallischen Schulphilosophie zu den beiden Transzendentalidealisten, die ihrerseits zugleich die religionsphilosophische Dimension rückzugewinnen suchen. Den Abschluss bilden die beiden führenden Vertreter der Luther-Renaissance, Karl Holl und Emanuel Hirsch, die im Durchgang durch jene Entwicklung wieder zu Luther zurückkehren.

Based on Luther’s concept of reformational conscience the present study is concerned with successional important main ideas of the theory about conscience by Christian Wolff, Immanuel Kant and Johann Gottlieb Fichte. The following development is traced: from the pure rational reconstruction of the originator of Halle’s school philosophy up to the two transcendental-idealists. The latter tried to re-establish the religious-philosophical dimension. The study concludes with the two leading representatives of the Luther-Renaissance, Karl Holl and Emanuel Hirsch, who by passing the development in Halle, return to Luther.


STEPHAN GRÄTZEL
Gewissen und philosophische Schuldtheorie

Die Vieldeutigkeit und Unschärfe des Begriffes „Gewissen“ leitet sich aus seiner Geschichte her, in der sich unterschiedliche griechische und christliche Traditionen verbinden. Gewissen kann demzufolge einerseits als Bewusstsein (griechisch-hellenistisch) und andererseits als Gefühl (christlich) verstanden werden. In beiden Fällen geht es um das Bewusstwerden einer unrechten oder schuldhaften Handlung, die als geschichtlich-mythische, moralische oder rechtliche Schuld erkannt wird. Der Aufsatz gibt sowohl eine Differenzierung des Schuldproblems als auch eine Spezifizierung der Sprachen des Gewissens.

Ambiguity and blur surrounding the term "conscience" derive from its history, in which different Christian and Greek traditions mingle together. Therefore, conscience can, on the one hand, be understood as "consciousness" (according to the Greek-Hellenistic tradition) and, on the other hand, as "sentiment" (according to the Christian tradition). Both terms deal with the awareness of a wrong or culpable action, which is recognized as historic-mythic, moral or legal guilt. The essay introduces both a differentiation of the problem of guilt and a specification of the languages of conscience.


JEAN GREISCH
Der Gewissensruf und das Problem der Selbstheit

Gehört die Metapher der inneren Stimme des Gewissens bzw. des „Gewissensrufes“ zum Kernbestand des Gewissensphänomens, oder dient sie nur zu dessen rhetorisch-allegorischer Ausschmückung? Gibt sie uns Aufschluss über den Zusammenhang zwischen dem Gewissensphänomen und dem Problem der Selbstheit, oder nicht? Diese Frage wird hier im Gespräch mit drei Hauptvertretern der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts entfaltet: Martin Heidegger, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur. Trotz der sehr unterschiedlichen Interpretation des Gewissensrufes, die jeder von ihnen vertritt, stimmen sie darin überein, dass der Rufcharakter ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens selbst ist.

Is the metaphor of the inner voice of moral consciousness just one image among many others, or does it help us understanding the underlying phenomenon itself? Can this metaphor be used as a key allowing us to elucidate the inner link between the phenomenon of moral consciousness and the problem of selfhood? These two questions are discussed here in dialogue with three major representatives of 20th century phenomenoly: Martin Heidegger, Emmanuel Levinas and Paul Ricœur. Notwithstanding their divergent interpretations of the voice of consciousness they agree that this “voice” is a constitutive character of the phenomenon itself.


Forum


GERHARD ALTENBURG
"Junge Draufgänger" unterwegs. Erbe der "Illegalen", Keimzelle der Bonhoeffer-Rezeption und Entwicklungsraum theologischer Persönlichkeiten: Die Anfänge des Berliner Unterwegskreises

Der Unterwegskreis gehörte seit 1945 von Anfang an zur kirchlichen Landschaft Berlins. Durch die Publikation der gleichnamigen Zeitschrift Unterwegs fand der Kreis auch Beachtung über Berlin hinaus. In anschaulicher Weise steht der Unterwegskreis für einen lokalen Versuch, durch die Transformation des bruderschaftlichen Kirchenkampf-Erbes der Bekennenden Kirche (BK) zum Neuanfang in der Evangelischen Kirche in Deutschland beizutragen.

From the very beginning since 1945 the Unterwegskreis became a part of Berlin´s ecclesiastical scenery. Publicating a journal of the same name, Unterwegs, this group also received attention beyond Berlin. The Unterwegskreis exemplifies a vivid local trial for a new beginning in the Evangelische Kirche in Deutschland by transforming the fraternal heritage of the Bekennende Kirche (BK).


Dokumentation


PAUL RICOEUR
Paulus zum Apostel berufen. Verkündigung und Argumentation. Rezente Lektüren

Übersetzung von Paul Ricoeurs Aufsatz „Paul apôtre. Proclamation et argumentation“, in dem er seine Analyse und kritische Würdigung der Paulusinterpretationen von G. Bornkamm, St. Breton, G. Agamben, J. Taubes und A. Badiou vorstellt. Die Analyse entfaltet sich in drei Schritten: Herausarbeitung der Brüche, die das Auferstehungskerygma erzeugt, Analyse der Aporien, die es enthält, Diskussion der Argumentationsstrategien, derer Paulus sich bedient, um die Intelligibilität des Kerygmas zu gewährleisten.

Translation of Paul Ricoeur’s essay “Paul apôtre. Proclamation et argumentation” in which he presents his analysis and critical discussion of recent readings of Saint Paul’s writings by G. Bornkamm, St. Breton, G. Agamben, J. Taubes and A. Badiou. Ricoeur’s analysis unfolds in three steps corresponding to three questions: 1. Which disruptions are produced by Paul’s kerygma of Christ’s resurrection? 2. What are the aporias contained in this kerygma? 3. How can one characterize the five strategies of argument that allow Paul to preserve the intelligibility of the kerygma?