Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ)

30. Jahrgang, Heft 2/2013

Recht und Religion


HARVEY COX
Religion and Politics in the Secular City

Ist das Säkulare das summum bonum der kulturellen Entwicklung oder eine Weltanschauung neben anderen? Aristoteles definierte die Stadt als den Ort, an dem Fremde sich begegnen. Auch die säkulare Stadt müsste daher ein Ort sein, an dem sich Säkulare und Religiöse, wie bei einer Jazzband improvisierend und gegenseitig anregend, begegnen. Eine solche „Cosmopolis“ wäre, gerade in ihrer Unvollkommenheit und ihrem stetigen Werden, ein erstrebenswertes Ziel.

Can the secular understand itself not as the summum bonum of history, but as one worldview among others? Aristotle defined the city as a place where strangers meet. So the secular city can be a place where religious and secular people meet and, like jazz musicians always improvising and elaborating as they go, learn to understand each other. Such a “Cosmopolis”, though imperfect and always in the making, would be a goal worth striving for.


ROLF SCHIEDER/TOBIAS SCHIEDER
Schülergebete in öffentlichen Schulen. Grundrecht oder Verletzung des Neutralitätsgebots des Staates?

Im Jahre 2008 vollzog ein muslimischer Schüler an der Diesterweg-Schule in Berlin das rituelle Mittagsgebet während der Pause im Flur der Schule. Die Schulleitung untersagte daraufhin das Beten auf dem Schulgelände. Der Schüler klagte gegen dieses Verbot und berief sich auf seine grundrechtlich gesicherte Religionsfreiheit. Das Verwaltungsgericht Berlin gab 2009 dem Schüler recht, das Oberverwaltungsgericht hingegen sah eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens für gegeben und gab der Schulleitung recht. Das Bundesverwaltungsgereicht in Leipzig unterstrich in seiner Urteilsbegründung das grundsätzliche Recht der Schüler auf freie Religionsausübung an der Schule, sofern dadurch weder der Unterricht beeinträchtigt noch der Schulfrieden in nicht hinnehmbarer Weise gefährdet sei. Ein Gebetsverbot komme nur in begründeten Einzelfällen in Frage. Die betroffene Schule las das Urteil freilich als Bestätigung ihres Gebetsverbotes, das sie mit der „religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates“, der sich die Schule verpflichtet wisse, begründet. Dieser Essay analysiert die Urteile und erörtert die pädagogischen Probleme.

In 2008, a Muslim student prayed publicly in the hallway of the Diesterweg-Schule in Berlin-Wedding. Thereupon the director of the school prohibited public prayers arguing that this might cause religious conflicts. The student sued the school for violating his right of religious freedom. While the Verwaltungsgericht ruled in favor of the student, the Oberverwaltungsgericht turned him down by arguing that such a prayer might endanger what it called “Schulfrieden” (“peace of the school”). The Bundesverwaltungsgericht as the highest judicial authority made clear that prayers by students are protected by the basic law – and exception from this right are only possible in case of a proven conflict with other basic rights. In any case there can be no general prohibition. Nevertheless the Diesterweg-Schule felt encouraged and keeps the prohibition up. This essay analyses the legal reasoning of the courts involved and discusses the pedagogical problems.


HEINER BIELEFELDT
Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Menschenrecht

Das Menschrecht der Religionsfreiheit steht von zwei Seiten unter Druck: einerseits wollen Traditionalisten und Konservative dieses Recht im Interesse einer Homogenität der Gesellschaft beschneiden, andererseits will ein liberaler Säkularismus die Religion aus dem öffentlichen Raum ins Private drängen. Das Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens-, Weltanschauungs- und Religionsfreiheit privilegiert weder religiöse Menschen noch schränkt es die Freiheitsrechte anderer etwa in der Weise ein, dass die Meinungsfreiheit es nicht erlaubt, den Glauben anderer Menschen verächtlich zu machen. Unter der Säkularität des Staates ist dessen respektvolle Nichtidentifikation mit einer Religion zu verstehen, nicht aber die Durchsetzung eines weltanschaulichen Säkularismus. Gegenüber Religionskritikern wie gegenüber Vertretern einer Staatsreligion ist der Stellenwert des Menschenrechts auf Religionsfreiheit immer wieder zu stärken.

The human right of religious freedom is often challenged – on the one hand by religious conservatives who would like to use religion to homogenize society, on the other hand by liberal secularists who would like to see religion as a merely private affair. Freedom of thought, conscience, religion or belief does not privilege religious persons nor does it stand in conflict with other human right like freedom of speech. A state’s secularity points to the principle of non-identification with any religion, but is does not mean that the state should promote a secular worldview. Freedom of religion should be defended against those who would like to have a religion privileged by the state and against those would like to dispel religion from the public sphere.


CHRISTIAN POLKE
Die Idee der Menschenwürde. Zwischen Sakralität der Person und Versprachlichung des Sakralen

Die Idee der Menschenwürde ist Ausdruck eines moralischen Universalismus, wie er sich als ethischer Konsens im 20. Jh. weitgehend ausgebildet hat. Der Artikel diskutiert unter Bezug auf das diskursethische Konzept von Jürgen Habermas und der Werttheorie von Hans Joas, wie diesem Anspruch auf universale Geltung auf der Ebene ethischer Argumentation entsprochen werden kann. „Versprachlichung des Sakralen“ oder „affirmative Genealogie“ der Werte stehen für unterschiedliche Begründungsweisen, der sich auch die theologische Ethik stellen muss. Für sie allerdings erweist sich der Vorzug der letzteren darin, dass sie religiöse Überzeugungen für die Plausibilisierung von Werteinstellungen nicht als nachrangig erachtet.

Moral universalism as a result of 20th century’s dark history expresses its basic ideas in the concepts of human dignity and of human rights. Thereby, what is controversial in contemporary moral theory is how to argue for them sufficiently. What are rational criteria to guarantee their universal claims? Two concepts are discussed within this article: Juergen Habermas’ discourse ethics with its plea for “Linguistification of the Sacred” and Hans Joas’ approach to an “affirmative genealogy” of values, especially of the sacredness of human person. Seen from the point of theological ethics only the latter affirms the equivalence of religious convictions facing rational secularism in argumentations of moral theorists.


TSVI BLANCHARD
Social Conflict and Cultural Meaning. A Rabbinic View of Religious Symbols and Law

Die meisten Religionen lassen sich nicht leicht von der Kultur, an der sie teilhaben, trennen. Beide verfügen über machtvolle Symbole und Rituale, die dem Leben ihrer Mitglieder Sinn geben und ihr Leben organisieren. Auch von Rechtssystemen wird erwartet, dass sie Verhalten steuern, indem sie ein bestimmtes Verhalten erwarten und bestimmte Verhaltensweisen sanktionieren oder verbieten. Die Gesetze des Staates und die Religionen stimmen aber nicht immer darin überein, welche Bedeutung bestimmte soziale Praktiken haben. Aktuelle Beispiele sind unter anderem die Dispute über die Bedeutung des öffentlichen Tragens von Kopftüchern und Jarmulkes, oder auch das Kruzifix, die Krippe, der Christbaum, die Menorah vor oder in öffentlichen Gebäuden. Dieser Essay stellt sich der Frage, wie man an solche Fälle umstrittener kultureller Bedeutung herangehen sollte. Zuerst wird ein jüdischer Text analysiert, in dem über die kulturelle Bedeutung eines Sachverhaltes diskutiert wird. Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass das Verstehen eines Falles nicht nur das Verstehen der Tatsachen erforderlich macht, sondern auch das Verstehen der kulturellen und symbolischen Bedeutung dieser Tatsachen. Moralische Ideale, Vorstellungen und Narrative von einer idealen Gesellschaft spielen eine wesentliche Rolle für die Lösung von Fällen mit umstrittener Bedeutung. Dann wird das Modell, das bei der Analyse des Falles aus dem jüdischen Recht entwickelt wurde, auf ähnliche Fälle aus zwei anderen Rechtssystemen, nämlich dem südafrikanischen und dem japanischen, angewendet. Als nächstes untersuche ich die Möglichkeiten, die den Gerichten offen stehen, um solche Fälle zu lösen. Und schließlich schlage ich – im Unterschied zur üblichen Lösungsmethode – vor, eine ohne Zwang auskommende Methode anzuwenden, die sich im jüdischen Zivilrecht entwickelt hat: ein vom Gericht initiierter, überwachter und vermittelter Kompromiss.

Most religions are not easily separated from the culture of which they are a part. Both involve powerful symbols and symbolic practices that organize and give meaning the lives of their members. Legal systems as well are expected to govern behavior, encouraging or requiring some actions while sanctioning and forbidding others. State law and religion do not, however, always agree on the meaning of a social practice. Contemporary examples include, among others, disputes about the meaning of publicly wearing headscarves and yarmulkes, or the display of crosses, crèches, Christmas-trees and menorahs. This paper addresses the question: how might such cases of disputed cultural meaning be approached? I first introduce and analyze a Jewish text that is about disputed cultural meaning. My purpose is to show that understanding the case requires understanding not just the facts but also the cultural or symbolic meaning of the facts. Again, based on this text, I suggest that moral ideals and or narratives or conceptions of an ideal society play a role in the resolving of cases of disputed meaning. I then use the model developed in my analysis of the case drawn from Jewish law to analyze similar cases from two other legal systems-Japanese and South African. These cases are shown to fit the model derived from the Jewish text. I next examine the options that are open to courts or legislatures especially, especially courts, in cases of disputed cultural meaning. Finally, I suggest that, as an alternative to the usual methods of resolving such cases, we further consider a relatively non-coercive method of resolving cases that is derived from Jewish civil law - court mandated and supervised mediated compromise.


MATHIAS ROHE
Scharia und deutsches Recht

In Europa herrschen verbreitete Ängste vor einem Konflikt zwischen der islamischen Scharia und dem Ordnungsprinzip des säkularen Rechtsstaats. Dieser allzu vereinfachten Sicht wird hier durch eine differenzierte Analyse der Faktenlage entgegengetreten.

In Europe fears of fundamental conflicts between the islamic Sharia and the democratic state and the rule of law are widespread. This paper refuses such oversimplifying perceptions by a differentiated analysis of the existing facts.


CHRISTIAN WALDHOFF
Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen

Die Einführung islamischer Theologie an staatlichen Hochschulen stellt eines von mehreren Projekten dar, den Islam in das überkommene staatskirchenrechtliche System des deutschen Grundgesetzes zu integrieren. Sie hängt unmittelbar mit der Einführung islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zusammen. Auch hier stellt sich vorrangig das Problem, wer als Ansprechpartner verbindlich die Glaubensinhalte verbürgen sowie die Unbedenklichkeit des Lehrpersonals in Fragen von Lehre und Lebensführung bestätigen kann. An vier Universitäten laufen zurzeit entsprechende Modellversuche. Anstelle der verfassten Kirchen treten Beiräte, die mit Vertretern islamischer Verbände sowie Persönlichkeiten des Islam besetzt sind.

The implementation of Islamic theology in public universities is one of several projects to integrate Islam into the traditional state-church law system of the German Grundgesetz. It correlates directly with the implementation of religious education in public schools. Here, too, there is primarily the problem of finding reference contacts, which can firmly guarantee Islamic beliefs and can also confirm the soundness of teaching staff in questions of science and lifestyle. At the moment there are tests in progress at four universities. The institutionalized churches are replaced by advisory councils, which are staffed with representatives of Islamic organisations and leading Islamic figures.


MICHAEL HASPEL
Diakonie und Arbeitsrecht in theologischer Perspektive. Evangelisches Profil und kirchlicher Auftrag der Diakonie nach dem Ende des Konzepts der Dienstgemeinschaft

Der Beitrag beschäftigt sich aus theologischer Perspektive mit dem aktuellen Problem des Arbeitsrechts in kirchlichen Einrichtungen im Allgemeinen und der Diakonie im Besonderen. Zentral hierfür ist der Begriff der Dienstgemeinschaft, welcher im Laufe des Beitrags theologisch und juristisch hinterfragt wird und sich im Zuge dessen als ungeeignet für die theologische Bestimmung des kirchlichen Arbeitsrechts erweist.

This article focuses on current issues of labour law in institutions of the church and especially the German church based welfare – the Diakonie. The central concept is that of the “service fellowship”, which will be analyzed from a theological and a legal point of view. It becomes clear, that this concept is not capable of giving a theological foundation for special legal labour law for the church and her diaconic institutions.


HENDRIK MUNSONIUS
Kirchliches Arbeitsrecht zwischen Glaube und Ökonomie

Die Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts finden ihre Grundlage im Religionsverfassungsrecht und werden mit dem Leitbild der „Dienstgemeinschaft“ begründet. Dabei handelt es sich zunächst um einen religiösen Begriff, der einer Transformation bedarf, um erfahrbare Gestalt zu gewinnen. Diese geschieht durch Kommunikation, Unternehmenskultur und Rechtsgestaltung und wird gegenwärtig lebhaft diskutiert.

The specialities of the church labor law are based on the constitutional law on religions and are substantiated with the model of the „community service“. Community service in the first instance means a religious term, which needs a transformation, in order to gain experienceable shape. This happens through communication, corporate culture and shaping of law and it is right now part of lively discussions.


Karl-Barth-Preis


WOLFGANG HUBER
Unerledigte Anfragen an die Theologie. Dank für die Verleihung des Karl-Barth-Preises am 11. September 2012 auf der Wartburg