Humboldt-Universität zu Berlin - Praktische Theologie und Religionspädagogik

In Erinnerung an David Käbisch-Lepetit (1975–2024)



Aus der Zeitschrift Zeitschrift für Pädagogik und Theologie

 
Eine PDF-Version der nachfolgenden Erinnerung an David Käbisch-Lepetit finden Sie unter diesem Link.
 

 

Wer mit dem religionspädagogischen Denken von David Käbisch vertraut ist, begegnet einer Spannung, die dieser in seinem thematisch breitgefächerten Werk brillant zu verarbeiten wusste. Auf der einen Seite ging es ihm stets darum, in der ihm eigenen analytischen Kraft Komplexität in Ordnung zu überführen. Wie kaum ein anderer war er dazu in der Lage, Entwicklungen im Feld religiöser Bildung historisch einzuordnen, Arbeitsweisen religionspädagogischen Forschens zu klären und Unterrichtsprozesse didaktisch so anzubahnen, dass sie der Pluralität von Weltzugängen und der Eigenwürde individueller Wirklichkeitssichten gerecht werden. Diese seine Meisterschaft, Komplexität ordnend zu bändigen und zugleich vor Vereinfachungen zu schützen, fand ihre verdichtete Ausdrucksform in systematisierenden Tabellen, Schaubildern und Schemata, die sich in seinen Veröffentlichungen so zahlreich finden. Und doch: Wer genau liest, wer sich in die präzise formulierten Sätze hineindenkt, wird immer wieder einer Grenze ansichtig. David Käbisch war sich stets bewusst, ja noch mehr: es kam ihm zentral auf die Einsicht an, dass Religion, Bildung und Wissenschaft es tiefgehend mit Unverfügbarem zu tun haben. Vielleicht lag der Reiz der Religionspädagogik für ihn nicht zuletzt darin, dass sie mit ihrem Fokus auf Bildung, Lernen und Unterricht beidem verpflichtet ist: der Herstellung von Bestimmtheit und der Wahrung von Unverfügbarkeit – und hier eine Balance finden muss.

Mit der unerwarteten Nachricht von seinem Tod ist uns, zu deren Leben und Arbeiten David Käbisch selbstverständlich dazu gehört, diese Balance verloren gegangen. Dass dieser vielseitig begabte Wissenschaftler, sympathische Kollege, inspirierende Lehrer, dass dieser unentbehrliche Freund nun fehlt, ist gänzlich unfassbar und kaum zu integrieren. Deshalb kommt einem die klassische akademische Gattung des Nachrufs in diesem Fall auch eigentümlich unpassend vor – es sei denn, man nähme sie beim Wort als den Versuch, einen Menschen, der sich bereits entfernt hat, irgendwie doch noch zu erreichen. Erreichen können wir David Käbisch nicht mehr. Wir können aber an ihn erinnern als einen Kollegen, der uns viel bedeutet und deshalb unsagbar fehlt.

David Käbisch wurde am 19. Juni 1975 in Leipzig geboren, als Sohn der Musikerin Renate und des Pfarrers Dr. Edmund Käbisch. Nachdem die Familie 1981 nach Zwickau umzog, bekam er – ein Montagsdemonstrant – sowohl die Dynamik der kirchlichen Aufbruchsbewegungen im Vorfeld und während der Friedlichen Revolution als auch die rücksichtslose Machtausübung des SED-Staates hautnah mit. Beides hat ihn tief geprägt und findet in dem gemeinsam mit dem Vater herausgegebenen Materialheft „Akteure der friedlichen Revolution“ seinen religionsdidaktisch konkretesten Niederschlag. Auch seine Liebe zur klassischen Musik reicht in die Kindheit und Jugend zurück. Diese machte sich immer mal wieder sogar auf Konferenzen und akademischen Festveranstaltungen bemerkbar, auf denen er die Zuhörenden nicht nur durch wissenschaftliche Vorträge, sondern auch als versierter Cellist zu bewegen vermochte.

Nach dem Abitur studierte David Käbisch Evangelische Theologie in Leipzig, seiner Heimatstadt, die zeitlebens einen besonderen Platz in seinem Herzen besaß. Bereits während des Studiums deutete sich an, dass sein theologisches Interesse nicht an Ländergrenzen halt machte. Noch stärker als das Auslandssemester an der University of Gloucester in Cheltenham wirkte das Studienjahr an der Dormitio Abbey Jerusalem biografisch nach. Hier entstanden freundschaftliche Bande, die durch seinen weiteren privaten und beruflichen Weg hindurch halten sollten. Dabei besaß die Theologie für David Käbisch bereits während des Studiums zwei professionelle Bewährungskontexte: Er schloss 2003 sein Pfarramts- und 2007 sein Lehramtsstudium ab. Dass er sich dafür entschied, letztgenannten Weg theologisch-religionspädagogischer Professionalisierung weiterzuführen und diesen nach einem Referendariat in Markkleeberg mit dem Zweiten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien abschloss, zeigt an, was sich auch aus seinem Schriftenverzeichnis ablesen lässt: sein Herz schlug für die Schule und entsprechend nachdrücklich sollte er auch in seinen religionspädagogischen Publikationen darauf insistieren, dass die Identität und die Qualität des Religionsunterrichts von seinem Charakter als Schulfach her zu bestimmen seien.

Von 2003 bis 2008 war David Käbisch Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In diesen Jahren bildete sich ein erster Forschungsschwerpunkt aus, der von seinem Doktorvater Michael Wermke aktiv gefördert wurde: Nicht nur durch seine Dissertation zum Erfahrungsbegriff in der Religionspädagogik, sondern auch in weiteren kooperativ angelegten Projekten mit Wermke und seinem Weggefährten Johannes Wischmeyer avancierte Käbisch bereits in jungen Jahren zu einem der führenden Vertreter der historischen Bildungsforschung in der Religionspädagogik. Durch die Rezeption von geschichtswissenschaftlichen Innovationen brachte er frischen Wind in dieses nach der empirischen Wende teilweise etwas ins Abseits geratene Forschungsfeld. Ob am Vortragspult oder in der kollegialen Abendrunde, David Käbisch konnte mit leuchtenden Augen den bildungshistorischen Mehrwert transnationaler Zugänge gegenüber der klassischen Komparatistik vor Augen führen – und wer ihn vom Gegenteil überzeugen wollte, musste schon sehr gute Argumente aufbringen.

Bei dieser Freude an Forschung und Diskurs war es nur folgerichtig, dass er seinen akademischen Weg nach der erfolgreichen Promotion an der Universität Marburg fortsetzte. Hier fand er in Bernhard Dressler einen klugen Unterstützer und Gesprächspartner – was sich auch in neuen Gegenstandsfeldern und Theorieperspektiven bemerkbar machte. Die für Dressler bildungstheoretisch zentrale Figur des Perspektivenwechsels wurde von David Käbisch aufgenommen und in einem großen fachdidaktischen Entwurf auf das Lernen mit Konfessionslosen im Religionsunterricht bezogen. Angesichts seiner eigenen Erfahrung mit der forcierten Säkularisierung in der DDR ist es umso bemerkenswerter, mit welcher Konsequenz er auf der Gleichwertigkeit und dem religionsdidaktischen Potenzial der Wirklichkeitssichten konfessionsloser Schüler:innen bestand.

Kaum war das Habilitationsverfahren abgeschlossen, folgte er im Herbst 2013 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dort fand er ein kollegiales Umfeld vor, in dem er sich ausgesprochen wohl fühlte. Entsprechend produktiv waren die Frankfurter Jahre. Da David Käbisch gerne und gut in Teams arbeitete, erschloss er sich in zumeist projektförmigen Konstellationen eine Vielzahl neuer Forschungsthemen und -gebiete. Zwei davon seien beispielhaft hervorgehoben: Zum einen war er Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der sechsten EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung und trug maßgeblich dazu bei, dass die in den Vorgängerstudien vernachlässigte Bildungsdimension hier viel profilierter zutage tritt. Zum anderen brachte er in mehreren Projekten die religionsdidaktischen Potenziale digitaler Lernformen im Religionsunterricht zur Geltung, etwa über das Multimediaportal relithek.de zur (inter)religiösen Verständigung und Bildung.

Bezeichnend war, dass er im letztgenannten Projekt auch Student:innen in die Produktion und Auswertung von Erklärvideos einbezog. Denn David Käbisch war ein passionierter Hochschullehrer, der seinen Studierenden auf Augenhöhe begegnete und ihnen zugleich viel zutraute. Die Resonanz spricht für sich: Auf das studentische Votum hin wurde ihm im Juli 2023 einer der Frankfurter Universitätspreise für exzellente Lehre verliehen. Sein Motto „Die Lehre ist frei!“ kam auch der wachsenden Zahl von Mitarbeiter:innen an seinem Lehrstuhl zugute, denen er Freiräume und Förderung gleichermaßen zuteilwerden ließ.

Mit den Projekten und Kontakten häuften sich auch die Ämter, Funktionen und Aufgaben. Ob an der Goethe-Universität (etwa als langjähriger Studiendekan und Dekan des Fachbereichs Evangelische Theologie), in der Kirche (herausragend als Co-Vorsitzender der Fachkommission II der EKD zur Reform der Lehramtsstudiengänge) oder in der Wissenschaft (als dienstältestes Vorstandsmitglied der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik oder als Mitherausgeber religionspädagogischer Zeitschriften, Buchreihen und Lexika), stets brachte sich David Käbisch fast schon aufopferungsvoll ein, mit seiner ganzen fachlichen Expertise, mit viel Herzblut und mit einer beeindruckenden Fähigkeit, Prozesse zu strukturieren und auf den Weg zu bringen. Führt man sich diese Vielfalt vor Augen, stellt sich neben der hohen Anerkennung dieses schier unermesslichen Einsatzes auch ein Gefühl der Beklemmung ein. Steht die Religionspädagogik, die über die Wissenschaft hinaus in zahlreiche kirchliche und schulische Gestaltungskontexte hineinwirkt, strukturell in Gefahr, gerade diejenigen zu überlasten, die bereit und fähig sind, besonders viel zu geben?

Solche Fragen stellen sich auch uns, die wir gemeinsam mit ihm fast zehn Jahre lang diese Zeitschrift herausgegeben haben. David Käbisch war seit 2014 Teil unseres Herausgeber:innen-Teams. In dieser Zeit hat er 15 Themenhefte mitverantwortet. Wer die Hefte überfliegt, wird nicht übersehen, wie stark er die religionspädagogischen Diskurse dieses Jahrzehnts beeinflusst hat, sei es durch thematische Akzentuierungen, sei es durch eigene Beiträge. Was vielleicht erst beim zweiten Blick auffällt: Der Impuls, Beiträge nicht nur im traditionellen Modus gezielter Anfragen, sondern über möglichst breit gestreute „Calls for papers“ einzuwerben, ging maßgeblich auf David Käbisch zurück, der folglich auch an überdurchschnittlich vielen solcher Hefte beteiligt war – so auch beim Herbstheft dieses Jahres, dem ein von ihm initiierter Call zu „Religion in politischen Konflikten als pädagogische Herausforderung“ zugrunde liegt.

Aber natürlich denken wir nicht in erster Linie an diese so gute und konstruktive Zusammenarbeit, wenn wir den Tod von David Käbisch betrauern. Wir vermissen einen herzlichen, geselligen und humorvollen Menschen, der nicht nur hochkonzentriert gearbeitet, sondern auch gern und viel gelacht hat.

Und uns ist bewusst, dass nicht wir es sind, denen er am meisten fehlt. Wer die Vorworte zu seinen Qualifikationsschriften liest oder David Käbisch näher kannte, weiß, was und wer ihm – bei aller Hingabe für die Wissenschaft – am meisten am Herzen lag: Die Dissertation ist seinen Eltern, die Habilitation seiner Frau Friederike und seinen Söhnen Jakob und Benjamin gewidmet. Wenn er auf seine Familie zu sprechen kam, tat sich etwas in seiner Stimme und seinem Blick – ein Zeichen dafür, dass nicht nur das Schlimmste, sondern auch das Schönste im Leben unverfügbar ist.

Beides scheint in dem Bibelvers auf, der auf seiner Beerdigung zu hören und in der Traueranzeige zu lesen war. Er steht in der Bergpredigt, zu der David Käbisch gleich zwei Handbuchartikel verfasst hat: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

 

Henrik Simojoki, auch im Namen der Mitherausgebenden