Humboldt-Universität zu Berlin - Zur Geschichte der Neutestamentlichen Wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Neutestamentliche Wissenschaft an der Berliner Universität

 

Von 1810 bis 1945

Bei der Gründung der Berliner Universität 1810 war das Neue Testament innerhalb der Theologischen Fakultät noch nicht als eigenständiges Fach vertreten, sondern wurde von Universalisten gelehrt, die sich auf mindestens zwei der heute gängigen Einzeldisziplinen verstanden. Zu den neutestamentlich versierten Professoren zählte zuerst Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der alle Fächer außer dem Alten Testament lehrte, aber auch Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), später August Detlef Christian Twesten (1789–1876) und Otto Pfleiderer (1839–1908).


Bernhard Weiss

Ein Lehrstuhl für Neues Testament wurde erstmals 1876 eingerichtet und mit dem aus Kiel berufenen Bernhard Weiß (1827–1918) besetzt, der die Professur bis zu seiner Emeritierung 1908 innehatte. Neben seiner maßgeblichen textkritischen Arbeit am Neuen Testament und zahlreichen Beiträgen zur Meyer’schen Kommentarreihe (KEK) ist der »Meister des Lehrbuchs« (Deißmann) vor allem durch seine Standardwerke zur »Biblischen Theologie« (1863, 7. Aufl. 1903) und zur »Einleitung in das Neue Testament« (1886, 3. Aufl. 1897) hervorgetreten. In die Zeit des Ordinariats von Weiß fällt die Berliner Habilitation Adolf Jülichers (1857–1938) mit einer Arbeit zu den »Gleichnisreden Jesu« (1886), die erstmals mit der überkommenen allegorischen Deutung bricht.

 

Adolf Deissmann Auf ausdrücklichen Wunsch von Weiß wurde der Lehrstuhl nach seinem Ausscheiden Adolf Deißmann (1866–1937) anvertraut, der sich in seiner Berliner Zeit, vor allem ab dem Ersten Weltkrieg, weniger fachwissenschaftlich als kirchenpolitisch und ökumenisch engagiert hat. Das 1911 erschienene Buch über den Apostel Paulus bietet aber noch einmal eine Synthese seiner Beschäftigung mit der paulinischen Christusmystik, die auf die Habilitationsschrift von 1892 zurückgeht (»Die neutestamentliche Formel ›in Christo Jesu‹«, 2. Aufl. 1925), und dem intensiven vergleichenden Studium der Textzeugnisse aus der hellenistischen Umwelt des Neuen Testaments, das sich u.a. in seinem bekanntesten Werk »Licht vom Osten« (1908, 4. Aufl. 1923) niedergeschlagen hatte. ►►►

Unter Deißmann habilitierte sich 1910 Martin Dibelius (1883–1947), der 1908 mit »Die Geisterwelt im Glauben des Paulus« (1909) unter Otto Pfleiderer (welcher zugleich die Systematik vertrat) zum Lic. theol. promoviert worden war. Dibelius' zuvor von Bernhard Weiß abgelehnte Untersuchung zu Johannes dem Täufer enthielt bereits Vorüberlegungen zur Formgeschichte neutestamentlicher Texte, deren methodische Grundlegung 1919 mit der »Formgeschichte des Evangeliums« (3. Aufl. 1959) folgte, als er bereits Professor in Heidelberg war. In dieselbe Richtung wie Dibelius arbeitete auch Karl Ludwig Schmidt (1891–1956), der ebenfalls 1919 mit seiner Berliner Habilitationsschrift zum »Rahmen der Geschichte Jesu« (3. Aufl. 1969) auf sich aufmerksam machte. Ernst Lohmeyer (1890–1946) wurde 1912 unter Deißmanns Betreuung mit einer Begriffsstudie zur »Diatheke« im Neuen Testament zum Lic. theol. promoviert. Lohmeyer habilitierte 1918 bei Dibelius in Heidelberg. Zu nennen sind schließlich noch zwei weitere Schüler Deißmanns, Johannes Schneider (1895–1970) und Günther Harder (1902–1978), die das Fach nach 1945 im geteilten Berlin prägen sollten. Adolf Deißmann leitete 1930/31 die Berliner Universität als Rektor und war damit für 60 Jahre der letzte Theologe in diesem Amt. 1933 unterzeichnete er wie Jülicher, Schmidt und Lohmeyer die Marburger Erklärung »Neues Testament und Rassenfrage«. Mit seiner Emeritierung 1935 verließ einer der letzten aktiven Gegner der nationalsozialistischen Ideologisierung die Fakultät.

 

Deißmanns Nachfolger wurde Johannes Behm (1883–1948), dessen Name sich mit einer Reihe von Artikeln für Gerhard Kittels »Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament« verbindet, besonders aber mit der Neubearbeitung der »Einleitung in das Neue Testament« von Paul Feine (8. Aufl. 1936, 9. Aufl. 1950), die die Grundlage für »Einleitung« von Werner Georg Kümmel bildete. Die »Entnazifizierung« der Universität beendete 1945 die akademische Laufbahn Behms.

 

Nach 1945

Die jüngere Geschichte der Berliner Theologischen Fakultät ist in besonderer Weise von den Wechselfällen der politischen Verhältnisse geprägt. Mit der Teilung der Stadt war der Auf- und Ausbau mehrerer wissenschaftlich-theologischer Ausbildungsstätten verbunden, der spätestens nach dem Mauerbau 1961 vollständig getrennt verlief.

 

Im Osten entstand die staatlich kontrollierte Theologische Fakultät an der Humboldt-Universität, ab 1971 »Sektion Theologie«. Im Westen die Kirchliche Hochschule in Zehlendorf, die ihre Wurzeln in Hochschulprojekten der Bekennenden Kirche aus den 30er Jahren hatte. Die Sprachausbildung der Studierenden der Kirchlichen Hochschule fand in Ostberlin im »Sprachenkonvikt« in der Borsigstrasse statt, bis die Mauer ab 1961 auch die kirchliche Institution zerriss. Der politischen Wiedervereinigung folgte 1991 bis 1993 die Fusion der drei Ausbildungsstätten zu einer neuen Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität. Gegenwärtig verfügt das Seminar für Neutestamentlichen Wissenschaft über zwei Lehrstühle.

 

Zur Geschichte des Lehrstuhls für Literatur-, Religions- und Zeitgeschichte des Urchristentums

Zur Geschichte des Lehrstuhls für Exegese und Theologie des Neuen Testaments sowie die neutestamentlichen Apokryphen